Wenn die Welt ins Wanken gerät: Benny Lindelaufs „Unsere Goldene Zukunft“

„In diesem Moment begriff ich, dass es eine Lüge ist, wenn es heißt, dass Leute erwachsen werden. Vielleicht wachsen sie äußerlich bis zur Größe einer Großmutter oder einer Schuldirektorin heran, aber innerlich werden sie nicht viel älter als ich, Müllche oder sogar Ness.“
Im Lauf der nächsten Jahre hat Fing noch reichlich Gelegenheit, diese Feststellung zu überprüfen. Denn ganz allmählich gerät ihre Welt, in der Omm Maji, die Schwestern Müllche und Ness auf der einen und Papp und die vier Brüder auf der anderen Seite für Stabilität sorgten, aus den Fugen.  Klammheimlich schleichen sich Veränderungen ein. Es geschehen Dinge, die
das 14-jährige Mädchen nicht deuten kann. Ein Auto ohne Licht fährt
vor, ein flachsblondes, Mädchen – Liesl – erscheint beim
„Zigarrenkaiser“ und seiner „Prüüszeschen“, der deutschen Frau. Fing
wird dafür bezahlt, Liesl Gesellschaft zu leisten und muss ihre
Ambition, Lehrerin zu werden, begraben. Kein Wunder, dass sie das
Mädchen, das so plötzlich aus dem nahen Deutschland auftauchte, nicht
leiden kann.
Und Liesl tut auch nichts dafür gemocht zu werden. Im Gegenteil, sie
macht Fing das Leben schwer. Dabei hat die doch ohnehin schon genug
Sorgen. Die erste Blutung, der erste Kuss, eine neue Arbeit. Und dann
beginnt der Krieg – einfach so, mitten in der Nacht. Deutsche Soldaten
marschieren ein, Geschäfte werden verrammelt, Menschen verschwinden.
Eines Tages nehmen die Soldaten den Vater und die Brüder mit, eines
Tages ist Fings Freund dabei, als der alte Hausierer zusammengeschlagen
wird.
So fräsen sich die Veränderungen in Fings Alltag und doch geht das Leben
weiter. Anders ist es geworden, dramatischer, erwachsener. Trotzdem
bleibt Fing ein Mädchen mit Mädchenträumen. Aus denen stürzt sie immer
gefährlicher ab, immer mehr kriecht die Dunkelheit in ihre Seele. Und
das nicht erst, als die Deutschen alle Juden abholen – auch die
Prüüzesche – und als sie weiß, warum Liesl über die Grenze gekommen ist.
Wegschauen hilft nicht mehr.
Der Niederländer Benny Lindelauf (Jahrgang 1964) erzählt aus einer Zeit,
die er nur vom Hören und Sagen kennt als wär’s gestern gewesen. Obwohl
die Ausdrücke im Öcher Platt (gut: das Glossar im Anhang)
gewöhnungsbedürftig sind und anfangs das Lesen etwas erschweren, setzt
sich Fings Geschichte um ihre ganz und gar nicht goldene Zukunft wie mit
Widerhaken im Kopf fest – und konfrontiert die Leser mit Fragen wie:
Könnte so etwas wieder passieren? Und wie reagieren wir, wenn wir – so
wie Fing – keine Helden sind? Eine schmerzhafte aber notwendige Lektüre.   

Benny Lindelauf, Unsere goldene Zukunft, Bloomsbury, 460 S., 16,90 Euro, ab 13 

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