Geschriebenes

„Das Leben führt einen mal hierhin, mal dorthin und setzte einen am  Ende in einen Sessel.“ Da bleibt der belesenen Dolores nur mehr das Stricken als Zeitvertreib, zumal ein Schlaganfall der 85-Jährigen auch die Sprache genommen hat. Wie ein Stück Inventar sitzt die Alte im Haus ihrer jüngsten Tochter Leonor.
Sie ist „niemand“ für die anderen, was es ihr noch leichter macht, ihre
Umwelt zu durchschauen. So wird sie ganz unfreiwillig auch Ohrenzeuge
sexueller Ausschweifungen innerhalb der Familie. Und weil ihr Verstand
noch hellwach ist, sieht sie auch sonst mehr als alle anderen. Die
Magersucht der Enkelin. Dass der Schwiegersohn, der verachtete
„Philosoph des Widerstands“, fremd geht und das mit einer
Minderjährigen. Dass der so einfühlsame Enkel homosexuell ist.
„Offensichtlich muss man schwul sein, um mich zu verstehen“, denkt
Dolores in ihrem Sessel.
Dabei ist der sprachlosen Oma nichts
Menschliches fremd, war sie doch auch einmal jung und lebenslustig.
Während sie am Pullover für die Enkelin strickt und die weiche Wolle
durch ihre gichtigen Finger gleiten lässt, rekapituliert die alte Frau
ihr Leben und ihre Lieben. Es waren Bücher, verbotene Bücher, die ihr
eine neue Welt öffneten und sie bereit machten für ihre große Liebe.
Bücher trösteten sie auch über die Verluste hinweg, die ihr das Leben
schwer machten. Und jetzt, im Alter, ist es das Kätzchen auf dem
Computer des Enkels, das sie von den innerfamiliären Problemen ablenkt.
Und natürlich die Lust am Stricken.
Während sie über die veränderten
Zeitläufte nachdenkt, lässt die Großmutter auch die politische
Entwicklung Spaniens Revue passieren. So viel hat sich geändert, während
sie alt wurde – und doch ist das Wichtigste gleich geblieben: die
Gefühle. Katharina Thalbach liest mit viel Verve Blanca Busquets
herzerwärmende Familiengeschichte „Die Woll-Lust der Maria Dolores“ –
257 Minuten Hörgenuss.
Info: Blanca Busquets, Die Woll-Lust der Maria Dolores, gelesen von
Katharina Thalbach und anderen, Der Hörverlag, 4 Audio-CD,
19,95 Euro.