Darf man das? fragt man sich anfangs noch besorgt angesichts von
Passagen wie dieser: „Es war im kalten Januar, es ging um die Befreiung
von Auschwitz. Auf eine Leinwand wurden hintereinander grässliche
Schwarz-Weiß-Fotos projiziert. Natürlich die bekannten Berge von
Brillen, Schuhen und Haaren. Es kamen auch Skelette, Goldfüllungen und
Gebisse an die Reihe. Als die Gebisse die Szene eroberten, taten sie es
ausgesprochen dynamisch. Es kam eine Brise auf, die Leinwand wellte sich
leicht – und die Gebisse begannen, leise zu kauen. .. Schnell weg, sage
ich nur. Und lasst mich – liebe Leute – bloß nicht weiter geschmacklos
faseln.“
Das tut Jan Faktor dann doch, weitere 600 Seiten lang
– zum Glück. Denn Georgs Geschichte einer Kindheit und Jugend im
Nachkriegs-Prag ist so anarchisch, so umwerfend skurril und erfrischend
respektlos, dass man dem Autor, der sich hinter seiner Hauptfigur nur
ungenügend verbirgt, (fast) jede Geschmacklosigkeit – und deren gibt es
viele auf 637 Seiten! – verzeiht.
In seinem Rückblick mäandert der
Ich-Autor mit der Vorliebe für Müll um seine Entwicklung vom
schwächlichen Knaben, der in einem Frauenhaushalt verzärtelt wird, über
den pubertären Rebellen bis zum depressiven Versager. Faktor erzählt
nicht linear, sondern kreist um sein Thema in immer neuen Ansätzen und
Konstellationen. Dabei spiegelt das Leben in der Prager Wohnung mit
ihren labyrinthischen Gängen, die als Sackgasse an Vorhängen oder
wackeligen Schränken enden, den klaustrophobischen, realsozialistischen
Alltag Prags wider ebenso wie die klebrige Umwelt des
alkoholsüchtigen Vaters. Auch die gefährliche Raketenbastelei mit dem
bewunderten Schulfreund, die fast inzestuös anmutende Beziehung zur
erdverbundenen Freundin der Mutter und die selbstmörderische Kraxelei
des Erwachsenen sind nichts anderes als Ausbruchsversuche aus einer
bleiernen Wirklichkeit.
Warum Georg unter Frauen aufwächst und sich
von der alles umschlingenden Liebe seiner Mutter auch als Erwachsener
kaum erholt, erfährt der Leser fast nebenbei. Die 13 Frauen, in deren
Obhut der Knabe zu ersticken droht, haben Auschwitz überlebt.
Kein Grund, stolz zu sein, glaubt Georg, dem diese Familiengeschichte
nur widerwillig und eher verschämt vermittelt wird.
Dieses eigentlich
todtraurige Buch über Georgs komplizierte Mannwerdung kommt im bunten
Gewand eines Schelmenromans daher, in der Nachfolge von Grimmelshausen,
Hrabal oder auch des braven Soldaten Schwejk. Angesichts
des deprimierenden Inhalts ein geradezu schamlos üppiges Lesevergnügen,
das noch dazu vertraut macht mit der jüngeren Geschichte in einem
scheinbar vertrauten Nachbarland. Kein Wunder also, dass der heilige
Hodensack-Bimbam für den Leipziger Buchpreis nominiert war.
Info:
Jan Faktor, Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder im Reich
des heiligen Hodensack-Bimbans von Prag, Kiepenheuer & Witsch,
634 S., 24.95 Euro