Der spitze Turm des Fraumünsters sticht in den Himmel wie ein Fingerzeig – Zürich, die Stadt der Banker, ist auch eine Stadt der Frauen. Und das seit dem finstersten Mittelalter. Klar, es gab auch Rückschläge, wenn die Herren der Schöpfung der Weiberherrschaft überdrüssig wurden. Aber Frau mischte immer mit in Zürich, mischte sich ein und bisweilen auch einiges auf.
Womöglich hat Ludwig der Deutsche das auch so gewollt, als er seinen
Töchtern Berta und Hildegard das Fraumünster-Kloster schenkte, samt
beträchtlichem Landbesitz und eigener Gerichtsbarkeit. Im elften
Jahrhundert kamen dann das Zoll-, Markt- und das Münzrecht hinzu. Die
blaublütigen Äbtissinnen waren also schon damals quasi Angela Merkel
und Margot Käßmann in Personalunion. Sie verkörperten kirchliche und
weltliche Macht wie andernorts die Fürstbischöfe. Und die
Stadtherrinnen taten das mit weiser Voraussicht, förderten Kunst und
Kultur und waren auch sonst dem Weltlichen nicht gänzlich abgeneigt.
Die letzte Äbtissin Katharina von Zimmern übergab im Zug der
Reformation durch Huldrych Zwingli freiwillig Rechte und Ländereien dem
Rat der Stadt und verhinderte dadurch den Bildersturm, der im
16.Jahrhundert durch die Kirchen fegte. Mit ihrem Schritt wollte sie
„die Stadt vor Unruhe und Ungemach bewahren und tun, was Zürich lieb
und dienlich ist“. Nach der Auflösung des Klosters heiratete Katharina
und bekam im Alter von 47 Jahren noch eine Tochter.
Seit 2004 erinnert eine Blockskulptur im Hof zwischen Fraumünster und
Stadthaus an die letzte Stadtherrin. Bei der Einweihung rief
Bundesrätin Micheline Calmy-Rey dazu auf, das „gewaltige
Friedenspotenzial der Frauen zu nutzen“. Die Frauen müssten an die
offiziellen Verhandlungstische zugelassen und in Krisengebieten aktiv
zum Wiederaufbau und zur Friedenssicherung beigezogen werden, forderte
die Bundesrätin, die 2007 auch Schweizer Bundespräsidentin war. Dass
heute Frauen wieder das Sagen haben, zumindest aber mitreden können in
der großen Schweizer Politik, ist keine Selbstverständlichkeit.
Zwischen der Reformation (1524) und der Einführung des
Frauenstimmrechts (1972) waren die Schweizer Frauen jahrhundertelang
vom politischen Geschehen ausgeschlossen. Die spannende neue
Dauerausstellung im Schweizer Landesmuseum „Geschichte der Schweiz“
trägt auch diesem Aspekt Rechnung. Vielleicht weil sie von zwei Frauen
konzipiert wurde – der Juristin Pascale Meyer und der Historikerin
Erica Hebeisen.
Studiert haben beide Kuratorinnen auch in Zürich. Die Universität, 1833
gegründet, war die erste, die Frauen zum Studium zuließ – allerdings zu Anfang
keine Schweizerinnen. Die durften damals nicht einmal Abitur machen.
Aber findig waren die Frauen schon damals. Und als der Augenarzt
Friedrich Erisman wegen der ersten Studentin Nadeschda Suslowa aus St.
Petersburg seine Verlobung mit Marie Vögtlin auflöste, rächte sich die
Verlassene auf ihre Art. Sie erzwang für sich ein Medizinstudium – das
Abitur holte sie während des Studiums nach -, wurde die erste Schweizer
Ärztin und gründete das erste Schweizer Frauenspital. Auch Emilie Spyri
ließ sich nicht beirren. Die Nichte der „Heidi-Mutter“ Johanna Spyri
war zwar die erste promovierte Juristin Europas, wurde aber als
Anwältin nicht zugelassen. Als sie vor Gericht mit dem Hinweis auf die
Gleichheit aller Menschen argumentierte, wies sie der Richter kühl ab:
„Von Schweizerinnen war da nicht die Rede.“ Die Schweizerin Emilie
Spyri ging nach New York und gründete dort das erste Women Law College.
Solche Geschichten erzählt Iris Meyer gerne. Die blonde Stadtführerin
mit der Intellektuellen-Brille ist mit Besuchern auf den Spuren von
Frauen unterwegs. Auch von solchen, die bis heute unterschätzt werden
wie Barbara (Bäbe) Schulthess, die langjährige Brief- und
Seelenfreundin Goethes. Als 1909 Bäbes Ururenkel auf dem Dachboden
ihres Hauses eine Urfassung des Wilhelm Meister fand, war das eine
„kleine Sensation“. Viele Frauen haben in Zürich ihre Spuren
hinterlassen. Aber nur eine ist auf einem Geldschein zu sehen: Sophie
Teuber ziert den 50-Franken-Schein. Die Künstlerin und spätere Ehefrau
von Hans Arp gehörte zu den Initiatoren des Cabaret Voltaire, für kurze
Zeit Tummelplatz der Dadaisten und Wiege der Moderne.
Heute ist das Haus in der Spiegelgasse wieder ein zentraler Ort für den
„discours dada“. Das passt zum schnuckeligen Stadtteil Niederdorf mit
seinen verwinkelten Gässchen, den geheimen Winkeln und winzigen
Lädchen. Hier ist Zürich multikulti, jung und kreativ. Auch wenn man
auf Würstl Bar, Kebab Haus, Take away und die zahlreichen
Starbucks-Filialen gerne verzichten würde. Alles ändert sich: Im
ehemaligen Fischgeschäft residiert adidas, in der früheren Bäckerei
gibt es Kunst statt Brot zu kaufen, im einstigen Käseladen ist das
Fruchtgummi-Paradies eingezogen und in den Räumen einer Metzgerei, über
deren grässlichen Gestank sich Lenin einst beschwerte, präsentiert sich
trendige Mode.
Gleich in der Nähe, in der Spiegelgasse Nummer 2, arbeitet eine junge
Mode-Designerin. Sne nennt sich ihr Label – Simone näht etwas. Und das
tut die 32-jährige Simone Mauz seit ihrer Schulzeit. „Früher habe ich
Kleider für meine Freundinnen genäht“, erzählt die schlanke Frau mit
dem dunkelbraunen Pferdeschwanz. Da war schon klar, wohin ihr Weg
führen wurde. Sie studierte an der Hochschule für Design und
Schnitttechnik an der Textilfachschule. Raffiniert geschnitten ist
alles, was Simone näht: Schwingende Röcke in lebhaften Farben und
Mustern, schmal geschnittene Jacken mit raffiniertem Kragen, schmale
geraffte Oberteile. Der Start in die Eigenständigkeit war nicht leicht.
Nur mit Nebenjobs konnte sich die junge Unternehmerin anfangs über
Wasser halten. Aber jetzt weiß Simone Mauz, für wen sie etwas näht. Sie
hat viele Stammkundinnen. Die Züricher Damen seien „eine lässige
Kundschaft“, lobt sie.
Womöglich gehört Pia Schmid auch dazu. Die erfolgreiche
Innenarchitektin hat der Terrasse Bar am Bellevue Platz ihren Stempel
aufgedrückt. Kandelaber paaren sich mit frivolen Skulpturen und Bildern
– eine Anspielung auf die Vergangenheit des Restaurants als
Striptease-Lokal.
Auch Maria Büeler Zischler könnte Gefallen an der pfiffigen sne-Mode
finden. Die junge blonde Hoteldirektorin ist schließlich für ein
außergewöhnliches Haus verantwortlich, das sich an die Individualisten
unter den Zürich-Besuchern wendet. Das Alden Hotel Splügenschloss im
historischen Zürcher Wohnquartier Enge ist mit seinen 22 Zimmern und
Suiten das kleinste Hotel der Schweiz. Das Haus im noblen
Gründerzeitstil war schon 1939 „Fremdenpension“. 2004 wurde es
umfassend umgestaltet und verbindet jetzt zeitgemäßen Luxus mit
historischem Ambiente: schwere Vorhänge aus Seidentaft, an den Wänden
moderne großformatige Bilder, hohe Stuckdecken und schöne Parkettböden.
Zu den modernen Designmöbeln gesellt sich da ein Jugendstilsekretär,
dort ein Biedermeierschrank oder ein Intarsien-Tischchen. Im feinen
Restaurant, wo Küchenchef Roland Höhmann am liebsten südländische
Spezialitäten ohne Schnickschnack aber mit feinsten Olivenölen
auftischt, tafelt man zwischen glamourösen Fotografien, die ans frühe
Hollywood erinnern. Erfolgsautor John Grisham, erzählt Maria Büeler
stolz, habe die Intimität des kleinen Hotels besonders genossen. Und
wenn sie nicht gegoogelt hätte, hätte sie den „sympathischen Gast“
nicht einmal erkannt.
Monika Jacqueline Maag hätte keinen Computer gebraucht, um einen wie
Grisham zu erkennen, eher schon eine Glaskugel. Die junge Frau mit der
wilden rotblonden Lockenmähne und den schwarz umrundeten Augen führt
Zürichs ersten und einzigen Hexenladen. Und das in der Zwingli-Stadt
Zürich? Die studierte Juristin und Betriebswirtin lacht. Sie hat ihr
Hobby zum Beruf gemacht und in Zürichs Kruggasse einen Hauch von Harry
Potters Winkelgasse gebracht. Da gibt es magische Literatur und
Räucherstäbchen, Tarotkarten und hinduistische Gottheiten, ein
Feenschach und Ouija-Bretter, die den Kontakt mit Verstorbenen
ermöglichen sollen. Der Magie ist die zierliche Frau schon seit
Kindesbeinen verfallen, dank des Großvaters. „Ich bin ein Medium“, sagt
sie, „war schon von Geburt an hellsichtig“. Man kann ihre Dienste auch
buchen. Doch Beratungen macht sie nicht per Telefon: „Ich brauche mein
Gegenüber.“ Den Menschen auf ihrem Weg zu sich selbst behilflich zu
sein, macht Monika Jacqueline Maag Freude. Ein Helfersyndrom aber hat
sie nicht. „Ich lasse die Dinge nicht zu sehr an mich heran.“
Dass viele ihrer Kunden Männer sind, führt sie auf die acht
Freimaurer-Logen zurück, die in Zürich registriert sind. Darunter ist
auch eine gemischte Loge, in der Frauen als gleichberechtigte
Mitglieder anerkannt sind. Gleiche Rechte forderten schon Mitte des 18.
Jahrhunderts zwei Steinmetz-Witwen ein, die beim Bau des Zunfthauses
zur Meisen im Münsterhof den Zuschlag für die Steinmetzarbeiten
erhielten. Die Männerwelt freilich war in Aufruhr. Und am Ende blieb
den Frauen gerade noch die Hälfte vom Bau: die Rückseite und die
Querfront zum Fraumünster. Die Fratzen auf der Fassade, heißt es,
trügen die Gesichtszüge jener Herren, die den Damen damals so übel
mitgespielt hätten.
Heute hat Zürich eine Weiberzunft, die sich „Gesellschaft zu
Fraumünster“ nennt und bei der traditionellen Austreibung des Winters
in Äbtissinnen-Kostümen aufmarschiert. Und es hat mit Corinne Mauch die
erste lesbische Stadträtin.
Noch ein paar Zahlen auf dem Weg zur Emanzipation:
853 wurde das Kloster Fraumünster von Ludwig dem Deutschen gegründet.
1524 übergab Katharina von Zimmern das Kloster an den Rat der Stadt.
1859 eröffnete Sprüngli das erste Saloncafe in der Spiegelgasse, wo Frauen ohne Herrenbegleitung Kaffee trinken durften.
1880 machte das Frauenbad an der Limmat auf, bis heute eine Züricher Institution.
1894 wurde das erste öffentliche WC für Frauen am Bürkliplatz gebaut.
Das Örtchen im Chalet-Stil steht heute noch, zweigeteilt für Frauen und
Männer.
1972 erhielten alle Schweizer Frauen das Wahlrecht.