„Ich war alt genug zu wissen, dass es Glück ist, einen zu treffen, den man so gern hat, dass er einen nie stört.“
Die Frau in Sibylle Bergs Roman „Der Mann schläft“ hat das Glück und sie lebt es aus, vier Jahre lang, bis ihr der Mann bei einem Urlaub auf einer asiatischen Insel abhanden kommt. Einfach so.
Von da an lebt sie ihr Leben im Rückwärtsgang, denkt an die Zeit vor
dem Mann, die ungelebte Zeit und an die Jahre mit ihm, Jahre des
„elementaren Wohlbefindens“. Mehr hat sie nie erwartet. Die Frau ist
eine Einzelgängerin, die sich schwer tut mit ihrem eigenen Leben und
der Nähe zu anderen Menschen.
Wie durch ein Vergrößerungsglas sieht sie die Macken, seziert mit
mitleidlosem Röntgenblick die Lebenslügen, blickt hinter die schönen
Fassaden und registriert fast befriedigt, wie unvollkommen der Mensch
ist: „Gibt es einen größeren Witz als den Menschen? Emotionale Krüppel
in abstoßenden Hüllen, der Welt, dem Rudel, dem Wetter, den Gewalten
hilflos ausgeliefert, torkeln wir durch ein Dasein, das an
Lächerlichkeit nicht zu überbieten ist. All unsere ernsthaften
Versuche, die Welt zu verstehen, charakterlich integre Personen zu
werden, Besitz anzuhäufen, die Umwelt zu retten, Doktortitel zu
erwerben, enden mit verschissenen Windeln im Altersheim.“
Die Frau hat schon längst aufgegeben, ihr Leben mit Sinn zu füllen. Sie
hat sich zubetoniert, eine Bunkermentalität entwickelt, will nichts
wissen von der Außenwelt und noch weniger von der Innenwelt, Gefühlen,
die längst erkaltet waren. Erst der Mann rettet sie vor der völligen
Verzweiflung, weil er nichts will von ihr, nichts fragt, einfach da
ist. Und dann plötzlich nicht mehr.
Auf der Suche nach dem Verlorenen wird die Frau mit Menschen
konfrontiert, die sie nicht kennen will. Einem chinesischen Mädchen,
das altklug über das Dasein doziert. Dem Großvater des Mädchens, einem
alten Masseur, der in ein neues Leben schlüpfen möchte wie in eine alte
Haut. Und immer wieder läuft ihr die seltsame Bekannte über den Weg,
die sie nicht abschütteln kann, weil sie ihr folgt wie ein Schatten – bis
hinein in ihre Erinnerung.
Leicht macht es „Madame Berserker“, wie ein Rezensent die sprachlich
brillante Autorin wegen ihrer schonungslosen Zivilisationskritik einmal
nannte, ihren Lesern auch diesmal nicht. Die Frau, die ihre besten
Jahre hinter sich hat, ist in ihrem Urteil über die Welt und ihre
Menschen so ehrlich, dass es wehtut. Weil man sich ertappt fühlt, zur
Rede gestellt.
Sibylle Berg hat die Kunst perfektioniert, Zivilisationszombies
bloß zu stellen und gegen Gott und die Welt zu wüten. Sie ist eine
begabte Misanthropin, die in all der platten Trostlosigkeit noch
komische Aspekte findet. Wobei einem das Lachen wieder hochkommt wie
ein Schluckauf. Ihr literarisches Format trägt auch diesen Roman. Doch
hinter den surrealen Abgründen und dem Lebensüberdruss lauert hier die
ganz große Sehnsucht – nach Vollkommenheit, nach der zweiten Hälfte. So
ist „Der Mann schläft“ in aller Widerspenstigkeit auch ein Liebesroman.
Denn nur zu zweit, so scheint es, lässt sich diese Berg-Welt überleben.
Es sind Szenen von großer Zärtlichkeit, ganz ohne Kitsch, die Bergs
apokalyptische Höllenfahrt aufbrechen und erträglich machen.
Info: Sibylle Berg, Der Mann schläft, Hanser, 310 Seiten, 19,90 Euro