Das Gesicht des Weins ist frisch, kantig, hat eine Römernase und trägt einen blonden Haarschopf. Es ist leicht verwittert, von Falten durchzogen, mit weißem Lockenkranz und Brille. Oder es ist mittelalt mit rundem Gesicht, Stupsnase und leicht lockigem braunem Haar, oval mit Halbglatze und Brille. Das Gesicht des Weins sind erst einmal die Winzer, denn sie sind es, die aus den Trauben den „Göttertrunk“ machen. Doch der Wein hat auch ein anderes Gesicht, das des Terroirs auf dem er wächst, und das der Rebstöcke. Wenn Boden und Reben eine glückliche Ehe eingehen, dann werden große Weine geboren. Eines dieser Gewächse ist der Silvaner, der in Franken den Ton angibt – und das seit nunmehr 350 Jahren.
Entstanden ist der saftig-mineralische Weißwein aus einer spontanen Kreuzung zwischen Traminer und Österreichisch-Weiß, auch als „Bettschisser“ oder „Scheißtraube“ berüchtigt, wie Dr. Hermann Kolesch vom der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau verrät. Bis heute nennen alte Leute in Franken den Silvaner „Österreicher“.
Wann und wie der „Österreicher“ nach Franken kam, ist schriftlich festgehalten. Wer die Urkunde sehen will, muss nach Castell. Dort im Castellschen Kanzleiarchiv, dem ältesten Gebäude des Ortes, hängt nicht nur ein fürstlicher Stammbaum derer zu Castell, dort liegt auch die Amtsrechnung über 25 österreichische „Fechser“(unterirdische Abschnitt vorjähriger Triebe), die 1659 nach Castell gebracht und in den herrschaftlichen Weinbergen gepflanzt wurden. Damit hat Castell die Würzburger ausgestochen. Im städtischen Bürgerspital verweist ein Bildstock mit dem Abt Alberich Degen auf das Jahr 1665 als Geburtsjahrgang des Silvaners. Castell-Archivleiter Jesko Graf zu Dohna – sportliches Sacko, runde Brille, Typ aufgeklärter Wissenschaftler – weiß, wie es zu der frühen Pflanzung kam: Am 5. April 1659 holte der Bote Michael Saueracker auf fürstlichen Auftrag 25 Fechser Silvaner beim Händler Georg Krems in Obereisenheim. Die Frau des Händlers war ein Jahr zuvor in Castell zur Kur. Eine von vielen Kurgästen, denn das stattliche Gebäude wurde damals als „Wildbad“ genutzt.
Erst später, als der Kurbetrieb zum Erliegen gekommen war, zog die Verwaltung der Grafschaft ins Haus. Jetzt beherbergt es eines der größten Privatarchive in Deutschland, das seit immerhin 105 Jahren wissenschaftlich betreut wird. „Unser Archiv ist kein Luxus“, sagt Graf Ferdinand zu Castell-Rüdenhausen, „sondern Teil des Unternehmens, das wir pflegen.“ Der Graf – braune Joppe über rotem Pulli, beige Cordhose, Brille und blonder Seitenscheitel, Typ Musterschüler – ist studierter Jurist und über seine Familie Herr über ein Weingut, Wälder, einen landwirtschaftlichen Betrieb und eine Privatbank.
1774 gegründet, ist die Fürstlich Castell’sche Bank die älteste Bank Bayerns und eine der letzten Privatbanken. Ins Leben gerufen wurde sie als Sparkasse, die den Castell’schen Untertanen durch schwere Zeiten helfen sollte – eine frühe Vorgängerin der Grameen Bank von Nobelpreisträger Mohammed Yunas. „Wir sind überall winzig kleine Marktteilnehmer“, sagt der Graf in vornehmer Bescheidenheit, „und müssen versuchen besser zu sein als die Konkurrenz.“ Die Bankenkrise jedenfalls hat die fürstliche Bank besser überstanden als große Bankhäuser, wohl weil hier „richtig handwerkliche Kreditgeschäfte“ gemacht werden.
Auch beim Wein wirtschaftet das Haus Castell gewissenhaft. Das Silvaner-Jubiläum ist für den Grafen vor allem eine „Grundlage für die Zukunft“: „Wir feiern, dass unsere Vorfahren damals ein unternehmerisches Risiko eingegangen sind.“ Heute gibt es seiner Meinung nach „keine Rebsorte, die ihre Heimat so widerspiegelt wie der Silvaner“.
Die großen Lagen des Weißweins, der als leichter Sommerwein ebenso gute Figur macht wie als Großes Gewächs oder Edelsüßer, sind vor allem dem Main zu verdanken, der sich durch die Landschaft gefräst hat. An den sonnigen „Prallhängen“ mit den schweren, fetten Böden sind die besten Lagen. Da stehen die Reben da wie die Soldaten.
930 Familien geführte Weingüter gibt es heute in Franken, eines der größten ist das Weingut Wirsching im malerischen Städtchen Iphofen, das sich auf 375 Jahre Weintradition berufen kann. Heinrich Wirsching – weißhaarig, mit Gutherren-Sacko und dezenter Krawatte Typ Patriarch – investiert in die Zukunft, beim Weinbau und der Architektur. „Wir müssen dranbleiben, um weiterhin beim Wein mitreden zu können“, sagt er und führt stolz durch sein Reich, in dem Tradition und Moderne eine harmonische Verbindung eingehen. Eine Stahl-Glas-Konstruktion überspannt seit neuem den Innenhof vor der modernen, eher kühl wirkenden Videothek, die sich dem Betrachter nicht aufdrängt, sondern dem romantischen Fachwerk den Vortritt lässt.
Das Thema Wein und Architektur, in Spanien, Südtirol und Österreich schon groß gespielt, ist in Franken angekommen. In Würzburger Staatlichen Hofkeller, wo mit dem 1540er Würzburger Stein lange Zeit ein Tropfen aus der Zeit Shakespeares lagerte, wurde eine hochmoderne Bar in die historischen Räume gesetzt. Ebenerdig lädt eine gläserne Degustationsbox zum Verkosten ein.
Auffällig und ausgezeichnet auch die Architektur vom Weingut am Stein. Ein Muschelkalkquader dient als Gästehaus. Die Holzlamellenfassade in der geradlinig inszenierten Vinothek spielt mit Licht und Schatten. Hinter der spektakulären Inszenierung steht Ludwig Knoll mit Überzeugung: „Wir Winzer können unsere Weine nicht als Solitär verkaufen“, sagt er, und: „Architektur zeigt auch ein Stück der Winzerpersönlichkeit.“ Der Hausherr – breites Gesicht unter blondem Schopf, zupackende Hände, blaue Augen, Typ Naturbursche – ist stolz auf das Energiekonzept fürs Haus, den ganzheitlichen Ansatz. „Wir wollen wieder mehr auf die Natur hören“, gibt der 43-Jährige sein Ziel vor, in diesem Jahr stellt er den ganzen Betrieb auf ökologische Erzeugung um. Derzeit reift der Wein auch in einem nach dem goldenen Schnitt konstruierten Betonei, ein wissenschaftlich begleiteter Versuch möglichst harmonischer Vergärung, der von den Winzer-Kollegen eher belächelt wird. Natürlich hat auch Ludwig Knoll einen Edelstahlkeller wie sie. Aber er probiert eben gerne Neues aus. Trotzdem: „Wein machen ist kein Hexenwerk“, wiegelt er ab, „die Arbeit findet im Weinberg statt“.
Das kann auch Carl Friedrich Erbprinz zu Löwenstein bestätigen, der am Kalmuth, dem kahlen Berg vor allem Silvaner anbaut. Der ganze Berg ist von Trockenmauern durchzogen. Eine „Lebensaufgabe“, nennt sie der Erbprinz, im sportlichen Parka mit dem kantigen Gesicht Typ Landedelmann. Die ganze Anlage rund um den steilen Berg steht unter Denkmal- und Naturschutz. „Ich habe hier so ziemlich alle Auflagen, die man sich vorstellen kann“, sagt der blaublütige Winzer und lacht. Er sieht die „Knochenarbeit“ als Herausforderung, ist fasziniert von den Böden, auf denen neben den Reben auch seltene Pflanzen wie Cronulla, eine Wicke, und Asphodill, eine Lilienart, gedeihen. Und das, obwohl es in dieser Südwestlage im Sommer „wahnsinnig warm“ werde und Niederschläge selten wie in Südfrankreich seien. Mit sieben Quellen versorgt sich der Berg mit natürlichem Wasser. Trotzdem muss investiert werden, damit die Weine den immer höheren Ansprüchen gerecht werden. Über eine Million Euro hat der Erbprinz „in den Berg gesteckt“. Und ohne Unterstützung, räumt er ein, wäre das nicht möglich gewesen. Umso mehr freut er sich, dass die Aussichten für den Jahrgang 2008 „super“ sind, trotz einer eher „durchwachsenen Lese“.
Auch im Weingut Horst Sauer in Escherndorf stellt man sich auf einen guten Jahrgang ein. Der Winzer – Dreitagebart, kahler Schädel, Typ Intellektueller – erwartet „knackige Weine wie 2007“. Um richtig gute Weine zu bekommen, müsse man an der Weinschleife schon die Natur überlisten, verrät der vielfach ausgezeichnete Weinbauer. Man müsse die Stärken der Natur „herausholen, Gas geben“. Sauer hat den Ehrgeiz, „ganz oben im trockenen Bereich mitzuspielen“ und er ist überzeugt: „Wenn Sie heute wirkliche Qualität machen, klopft die ganze Welt bei Ihnen an.“
Das macht sich die Projektgruppe Tourismuskonzept zunutze. Seit 2007 gibt es eine Broschüre unter dem Titel „Frankenwein schöner Land – Reisen zum Frankenwein“, die in ihren Angeboten, so Dr. Hermann Kolesch, „europaweit einmalig fränkische Authentizität und Genussferien verbindet“. Immerhin vermarktet Franken 45 bis 60 Prozent des Weins direkt und profitiert dabei als „Durchgangsland“ vom Nord-Süd-Verkehr. Im Jubiläumsjahr des Silvaners sollen die Touristen auch länger bleiben, nicht nur im April, wenn in Castell die historische Pflanzung in Szene gesetzt wird. Denn außer dem saftig-mineralischen Wein hat Franken noch andere Genüsse zu bieten: gastliche Wirtshäuser, Weinfeste, Theater, Museen, Galerien, unverfälschte Städtchen mit intakten Wallanlagen – und die Residenzstadt Würzburg.