Die Wohntürme von Surfers Paradise zeichnen sich am Horizont ab wie die Zahnreihe eines Krokodils. Es muss wohl am Land liegen, dass mir solche Vergleiche durch den Kopf gehen. Australien ist anders, verrückter. Wo sonst würde ein „Crocodile Hunter“, der vor zwei Jahren am Stich eines Rochens starb, zum Nationalhelden? Wo sonst gibt es einen eigenen Zahnarzt für Koalas und einen Rund-um die-Uhr-Rettungsdienst für wilde Tiere? Wo sonst wächst Regenwald auf Sand, errichten Vögel einen Zaun und legen Stacheltiere Eier? Eine Reise durch das Land der Gegensätze zwischen subtropischem Regenwald und tropischer Inselwelt.
Es sind leidenschaftliche Menschen, die es in den Lamington Nationalpark verschlägt, ins Hinterland der Gold Coast Queenslands. Menschen wie Arthur Groom, der 1933 den Grundstein für die Binna Burra Mountain Lodge legte, zu einer Zeit, als Ökotourismus noch ein Fremdwort war und es noch nicht mal eine Straße in die Berge gab. Groom hatte eine Vision und sein Sohn Richard lebt sie noch heute. Die kleinen Häuser aus dem Holz der Tallowwood-Bäume, vor 75 Jahren mit einfachsten Mitteln gebaut, haben die Zeit überdauert. Aber moderner Komfort hat auch in Binna Burra Einzug gehalten und den meisten Holzhäuschen Dusche und WC sowie Heizofen und Mini-Bar beschert. Kein Fünf-Sterne-Luxus, sondern ehrliche Gastfreundschaft und ein Gespür für die Natur. Das hat Binna Burra als erster Lodge in Australien die Auszeichnung mit dem Green Globe eingebracht. Richard ist überzeugt davon, dass die Lodge auf dem richtigen Weg ist. Die(Stamm)Gäste geben ihm Recht. Erst kürzlich feierte ein Paar seine Goldene Hochzeit in der Lodge – sie hatten in Binna Burra schon ihre Flitterwochen verbracht. Und zurzeit macht eine junge Familie Urlaub auf dem Berg. Vor sieben Jahren wählte der Mann die Lodge für seinen Heiratsantrag. Richard mag solche Geschichten. Für die anderen ist Luke zuständig.
Der Ranger mit den braunen Augen und dem freundlichen Lächeln ist dem Nationalpark leidenschaftlich zugetan. „Ich liebe die Natur“, sagt der 30-Jährige und ich glaube es ihm aufs Wort. Denn bei dem Spaziergang durch den Regenwald ist Luke kein Vogel zu klein, keine Spinne zu giftig, um nicht mit staunender Zuneigung über die Wunder der Natur zu reden. Von Spinnen, die ihre Opfer in einer Art Dose (mit Deckel) fangen, erzählt er. Vom australischen Buschhuhn, das einen Zaun um sein Gelege baut, von den stacheligen Echydnas, deren Junge aus Eiern schlüpfen und im Beutel groß werden, von Tallowwood-Bäumen, die über 2000 Jahre alt sind, und den wertvollen Roten Zedern, die der Gegend eine Art „Goldrausch“ brachten. Bis zu einer Million Australische Dollar ist allein das Holz eines dieser majestätischen Baumriesen wert. Ganz klein komme ich mir vor in dieser ungezähmten Natur, in der Lianen, dick wie eine Boa constrictor gewaltige Baumstämme umschlingen oder andere wie riesige Korkenzieher von ausladenden Ästen baumeln.
Für Luke, der sein Geld auch schon mal als Didgeridoo-Spieler verdiente, ist die Welt voller Wunder. Dass wir die Wunder des subtropischen Regenwalds zwar auf bequemen Wegen und über in den Fels gehauene Stufen aber weitgehend unberührt erleben können, ist das Verdienst von Robert Collins, der, vom Yellowstone Nationalpark, dem ersten der Welt, inspiriert, leidenschaftlich für den Erhalt der noch ursprünglichen Natur in den McPherson Ranges kämpfte. Die Erhebung zum Nationalpark 1915 erlebte der Pionier nicht mehr; seit 1994 ist Lamington Weltkulturerbe, eine späte Rechtfertigung für Collins’ jahrelangen Kampf. Heute sieht es Luke als „Privileg“, hier leben zu dürfen.
Für Lee, den 26-jährigen Piloten des Wasserflugzeugs, mit dem wir über die magische Wasser- und Inselwelt der Whitsundays fliegen, ist die Welt dagegen ein Spielplatz und er ist gerne mittendrin. „It’s my passion“, sagt der blauäugige Surfboy mit den blonden Locken über das Fliegen, eine Leidenschaft, der er schon mit 15 Jahren frönte. Er wollte nicht Löcher in den Boden graben, sondern in die Luft gehen – und das tut Luke, mit wachsender Begeisterung. Da stört es ihn auch nicht, dass er wohl der einzige Pilot ist, der nach der Landung die Hosen runterlässt. Dann nämlich, wenn er seinen Flieger im seichten Wasser vor den Strand verankert. Dieser Trip über die Whitsundays sei der beste, versichert der Pilot, weil man da alles sehen könne, die Inseln und das in allen Blau- und Grünschattierungen schillernde Wasser des Great Barrier Reefs von oben – und von unten. Denn Schnorcheln im ausgebleichten Korallenwald, in dem sich regenbogenfarbige Fischlein tummeln, ist Teil des Programms wie das Picknick am puderweißen Strand von Whitehaven.
Die Polizei ist auch schon da: Sie sucht ein 20-jähriges Mädchen, das von einer Strandparty nicht zurückkam. Bei einer der letzten Rettungsaktionen hat Luke mit seinem Wasserflugzeug mitgeholfen. 19 Stunden waren zwei Taucher vermisst, bis sie gefunden wurden. So lange braucht das Partygirl nicht auf Rettung zu warten. Am Abend wird sie vom Suchtrupp entdeckt, einsam und verzweifelt. Die schönen Inseln können grausam sein. Luke träumt davon, nach Kanada zu gehen, seiner Freundin wegen, und weil er den Winter mag. Womöglich könne er bei Air Canada als Pilot anheuern, sinniert er.
Das wäre nichts für Chris, den studierten Sozialarbeiter aus Sydney. Seine Welt ist das Meer. Seit 15 Jahren fährt er als Kapitän zur See, auf kleinen Yachten wie der Descarada. Woher diese Leidenschaft kommt? Vielleicht liegt es daran, dass er in einem Bootsschuppen zur Welt kam, überlegt der dunkelhaarige 43-Jährige und lacht. Damals kein Privileg, auch wenn heute die Leute Millionen zahlen, um dort zu wohnen. „Wir waren arm“, stellt der smarte Kapitän klar. Und jetzt schippert er mit betuchten Touristen durchs Great Barrier Reef und der Champagner fließt in Strömen? Kein Problem für Chris. An Bord seien alle wie eine Familie und auch die Gäste würden schnell zu Freunden. „In dieser fantastischen Umgebung können die Menschen zu sich selbst finden“, sagt er und braust mit dem Beiboot ins Nara Inlet, eine verzauberte Landschaft mit Felspilzen und versteinerten Flammen in schwarz-weiß, mit uralten Graffiti, Wasserfällen und hängenden Bäumen, an denen die Nester der Weberameisen hängen wie braune Taschen. Auf einigen der Felsen haben die Segler, die in der geschützten Buch mit dem tieftürkisen Wasser gerne vor Anker gehen, ihre Namen hinterlassen. Chris deutet eines der Kürzel als das von Errol Flynn. Der skandalumwitterte Filmheld, des Missbrauchs von Minderjährigen angeklagt, hatte sich wohl vor seinen Verfolgern hierher geflüchtet. Das Graffiti verriet den 34-jährigen Draufgänger, beim Prozess stellte sich allerdings die Haltlosigkeit der Vorwürfe heraus. Chris mag solche Geschichten über Menschen und er ist gerne unter Menschen. Nachdem er mit 32 Jahren einen Herzinfarkt hatte, war es Zeit für ihn, „zu überlegen, was ich aus meinem Leben machen sollte“. Der „wunderbare Job“ auf der Descarada macht ihn glücklich. „Queensland-Zeit ist anders“, behauptet er, kein Stress, keine Hektik.
Gestresst sind die Koalas an Land. Autobahnen durchschneiden wie eine Axt ihre Lebensräume, Eukalyptuswälder werden gerodet, um neue Wohngebiete hochzuziehen. Bis zu sechs Tiere werden allnächtlich ins Tierhospital des Australian Zoo gebracht, mit Verletzungen durch Unfälle oder Hundebisse. Der Zoo wirbt mit dem Zusatz „Home of the Crocodile Hunter“ und hat den Ehrgeiz, die Träume des vor zwei Jahren von einem Stachelrochen getöteten Dokumentarfilmers und Nationalhelden Steve Irwin zu verwirklichen, wildlebenden Tieren einen Platz auf unserer Erde einzuräumen. Auch das Tierhospital arbeitet im Sinn Irwins. Drinnen sieht es aus wie in einem kleinen Krankenhaus. Zwei Koalas liegen auf den Operationstischen und werden gerade in Narkose versetzt. Der eine hat ein gebrochenes Bein, der andere mehrere tiefe Hundebisse. Nach der Operation werden sie erst mal in bequemen Käfigen aufgepäppelt und können sich dann in umzäunten Gehegen wieder an das Leben in Freiheit gewöhnen. „Unser Ziel ist es, die Tiere wieder in die Wildnis zu entlassen“, sagt Julie. Die gelernte Lehrerin hat als Volunteer im Hospital angefangen und jetzt einen Job in der Verwaltung. Aber Julie will mehr: Kinder für die Natur und die Tiere sensibilisieren.
Wenn der Neubau des Tierkrankenhauses im November fertig sein wird, will die 26-Jährige dort auch Schulungen für Kinder machen. Dann kann sie erklären, warum die putzigen Koalas nur im Zoo älter als zehn Jahre alt werden. Unter anderem, weil sie da einen Arzt haben, der ihre Zähne pflegt, so dass sie bis ins hohe Alter von 18 Jahren richtig zubeißen können. Sie kann von den winzigen Koala-Babys „so groß wie Käfer“ erzählen und von jenem Koala, der an gebrochenem Herzen starb, weil sein geliebter Baum gefällt worden war. Julie strahlt über das ganze runde Gesicht, als sie uns Sam zeigt, den ältesten Koala, blind ist er und taub schon seit seiner Kindheit. Deshalb konnte er auch nicht in die Wildnis entlassen werden.
Neben den Koalas sind es vor allem Vögel, die ins Krankenhaus eingeliefert werden – die Retter sind rund um die Uhr zu erreichen. „Wildlife Warriors“ nannte Steve Irwin seine Tierschützer und schickte sie in den Krieg gegen die Folgen der Zivilisation. Für die kleinwüchsige Julie ist der tote Dokumentarfilmer ihr großer Held und als solcher wird er auch in den Souvenirläden präsentiert. Es gibt Steve-Irwin-Actionfiguren, Irwin-T-Shirts, Kappen mit seinem Porträt, Teller und Tassen, in Schneekugeln ist er mit einem Krokodil zu sehen und im Fernsehen in seiner liebsten Rolle als Crocodile Hunter. (Bei uns laufen die Filme bis heute auf RTL 2.) Im Mittelpunkt eines schier unglaublichen Personenkults stehen inzwischen seine Witwe Terri, die Tochter Bindi und den Sohn Robert. „Alles für einen guten Zweck“, glaubt Julie und zeigt uns zwei Schildkröten, die in der Nacht zuvor ankamen. Sie wurden von Schiffsschrauben verletzt. Die eine wird wohl kaum überleben.
Vor Moreton Island kann ich auf einer „Eco-Cruise“ Schildkröten in ihrem natürlichen Umfeld beobachten. Im glasklaren Wasser bewegen sich die riesigen Tiere erstaunlich schnell und anmutig. Aber auch hier droht Gefahr. Erst gestern habe man eine verletzte Schildkröte in den Australian Zoo gebracht, sagt Andrea. Die Meeresbiologin arbeitet im Tangalooma Wild Dolphin Resort, dem einzigen weltweit, wo Touristen Delphine mit der Hand füttern dürfen. Ob die Tiere dadurch nicht vom Menschen abhängig gemacht würden? Die 25-jährige Wissenschaftlerin mit dem dunklen Pferdeschwanz und der Stupsnase schaut befremdet. „Wir behandeln die Delphine nicht als Kuscheltiere, sondern mit Respekt“, sagt sie dann ernst, und dass die Tiere nur zehn bis 20 Prozent ihres täglichen Nahrungsbedarf in Tangalooma erhielten. Es sind auch gerade mal zehn von 600 bis 800 Delphinen, die am Abend regelmäßig den Steg anschwimmen, wo sie gefüttert werden. Stammgäste sozusagen. Andrea kennt sie alle. Tinkerbell zum Beispiel, die an diesem Abend ihr zwei Wochen altes Baby Phönix mitbringt. „Wir haben schon die dritte Generation von Delphinen hier“, erklärt Andrea. Die Kinder lernen es von ihren Müttern.
Wer die Delphine füttern will, muss sich anhören, was er selbst tun kann, um wild lebende Tiere zu schützen. Andrea macht klar, wie gefährlich Plastiktüten im Meer sind, die von den Delphinen mit Quallen verwechselt werden. Welche Schäden Dosen anrichten und achtlos im Meer vergessene Angelrouten. „Wir wollen Bewusstsein schaffen“, sagt die Wissenschaftlerin, Bewusstsein dafür, was der Mensch der Umwelt antut. Sie appelliert an die Verantwortung jedes einzelnen. „Wir müssen alles tun, um die Artenvielfalt auf unsere Erde zu erhalten“, mahnt Andrea. Die Zuhörer schauen betroffen.
Am nächsten Tag ist der Quad-Trip über die Sanddünen ausgebucht. Schon Kinder preschen mit einem Höllenlärm auf den geländegängigen Vierrad-Buggys durch den Sand. Und ich bin mittendrin. Australiens Verrücktheit ist ansteckend.