Ja, warum eigentlich nicht? Wo doch der schöne, neue Bahnhof mittendrin ist in der Alpenstadt und auf dem von einer Glasglocke überdachten Gelände gleich noch den Postautos Unterschlupf gewährt. Im Untergeschoss ist auch die Tourismus-Information untergekommen. Warum nicht einmal Chur, fragt auch Michael Maier, Churs jugendlich-dynamischer Tourismusdirektor und hat deshalb zusammen mit Studenten der Swiss School of Tourism and Hospitality einen Audio-Guide gemacht, mit dem sich die Alpenstadt auf eigene Faust erleben lässt. Einfach runterladen auf den i-pod, Knopf ins Ohr und los geht’s. Oder bei Chur-Tourismus für neun Franken ein Gerät ausleihen, 50 Franken Kaution hinterlegen und den Stadtrundgang starten. 32 Sehenswürdigkeiten bringt der Audio Guide zu Gehör, darunter auch da Verwaltungsgebäude der Rhätischen Bahn und das Gebäude der Würth AG, beides natürlich Sponsoren des Projekts. Den Guide gibt’s in zehn Sprachen, auch in Russisch und Mandarin. Total global.
Stadtführerin Marlen Ibrahim-Brunold beschränkt sich auf Hochdeutsch. Auf alle Fälle Chur, sagt die gelernte Hotelkauffrau, die sich der Familie wegen auf Stadtführungen spezialisiert hat. Schließlich führt sie gerne Touristen durch ihre Heimatstadt und verdient sich damit ein notwendiges Zubrot. Die 42-Jährige mit den blonden Locken lässt beim Stadtbummel Bahn-Verwaltung und Würth-Zentrale links liegen; sie macht lieber auf das repräsentative Post-Gebäude aus der Jahrhundertwende, das Kunstmuseum mit dem Halbmond auf dem Dach und das bunt bemalte Zschaler Haus aufmerksam und erzählt kleine Geschichten zum Beispiel zu der türkis-blauen Halbkugel, in den nur langsam Wasser tropft. „Das sind die Tränen der Lukrezia“, sagt Marlen. Lukrezia hieß die Geliebte von Jürg Jenatsch, die an dieser Stelle von dem Freiheitskämpfer Abschied genommen haben soll. Lukrezia sollte ihren Helden nie wieder sehen.
Heute treffen sich verliebte Pärchen am romantischen Brunnen oder im blütenbunten, barocken Fontana-Park gleich um die Ecke. Der Gesandte Peter von Salis-Soglio hatte um die Mitte des 18. Jahrhunderts den Park und das herrschaftliche Haus errichten lassen. Seiner Gattin machte der Edelmann eine Grotte zum Geschenk. „Schon etwas anderes als eine Goldkette“, meint Marlen – allerdings zum Mitnehmen weniger geeignet. Ein gewaltiger Mammut-Baum am Ende des Parks trotzt bis heute dem wachsenden Churer Verkehr und gleich nebenan wacht mit grimmig-entschlossenem Blick Benedikt Fontana, der 1499 den Heldentod starb und zum Bündner Nationalhelden wurde, weil er das Land von den Habsburgern befreite.
Vom Straßenverkehr befreiten die Stadtoberen 1986 die Altstadt von Chur. So können Besucher die schönen mittelalterlichen Häuser, die Gassen und Plätze in aller Ruhe betrachten, ohne Gefahr zu laufen, dabei von einem Auto überrollt zu werden. So kann auch Marlen auf dem Kornplatz in aller Ruhe vom großen Brand erzählen, dem 1464 die mittelalterliche Stadt innerhalb der Stadtmauern zum Opfer fiel. Um sie gründlich von Ungeziefer zu befreien, habe eine Magd damals die befallenen Hühner angezündet. Daraufhin rannte das brennende Federvieh aufgescheucht durch Gassen und schon loderte das Feuer in Bürgerhäusern und Amtsstuben. Es verschlang Tische und Bänke und fraß sich durch Aktenstöße. So kam es, dass die älteste Schweizer Stadt plötzlich fast gänzlich ohne Papiere war, ein Zustand, den die Bürger nutzten, um sich aus der bischöflichen Umklammerung zu befreien. Noch im gleichen Jahr wurde eine Verfassung beschlossen, die das Zunftwesen regelte; Chur wurde zum Macht- und Wirtschaftszentrum der drei Bünde.
Wie bei vielen Häusern der Altstadt sind auch beim Rathaus Fenster und Türen mit grauem Stein eingefasst – zum Schutz vor Feuer. In der düsteren Halle im Erdgeschoss wurden früher alle Geschäfte abgewickelt. Darüber, dass in der Markthalle alles mit rechten Dingen zuging, wachte der „Kaufhaus-Aufseher“. Heute verkauft eine einsame Bäuerin zwischen abgestellten Fahrrädern Selbstgebackenes und Selbstgestricktes. Kaum ein Tourist verirrt sich an den Stand im Halbdunkel der Halle.
Draußen scheint die Sonne und vor dem Standbild des heiligen Martin fotografiert sich eine japanische Familie gegenseitig. In Römerrüstung und mit dem Bündner Wappen posiert der Heilige als Brunnenfigur vor der Kirche, die seinen Namen trägt. „St. Martin kann abgeschraubt werden“, verrät Marlen. „Im Inneren befindet sich eine Kartusche, deren Inhalt laufend aktualisiert wird.“ Die spätgotische Kirche mit den Glasfenstern von Augusto Giacometti ist gerade wegen eines Konzerts geschlossen. Dafür zeigt uns Marlen die Kathedrale Maria zur Himmelfahrt. Sie wurde in den letzen sieben Jahren gründlich restauriert und erstrahlt jetzt wieder in goldener Pracht mit üppigen Malereien. Einst war der Weg zum prächtigen Hochaltar aus vergoldetem Lindenholz mit Sarkophagen gepflastert. Jetzt zieren die Sargdeckel mit den Wappen der Fürstbischöfe die Wände des Kirchenbaus aus dem 15. Jahrhundert. Dem jeweils regierenden Fürstbischof war die Fürstenloge im Zentrum vorbehalten. Von dort oben konnte der hohe Herr die Messfeier verfolgen als säße er im Theater. Auffallend ist die hypermoderne Orgel, die mit 42 Registern und 3000 Pfeifen konzertreif ist. 20 verschiedene Baustile seien in der Kathedrale zu finden, sagt Marlen. „Da kommt es auf einen mehr oder weniger auch nicht mehr an.“
Das Verhältnis zwischen Bischof und Bürgern blieb auch nach dem Ende der Reformationswirren gespannt. Weil der Bischof einem flüchtigen Dieb Asyl gewährte, stellten die Bürger 1753 dem geistlichen Oberhaupt einen Turm vor die Nase. Das so genannte Brillentor erregte über die Grenzen der Stadt hinaus Aufsehen. „Wilde Geschichten“, so Marlen, ranken sich auch ums Bärenloch im ältesten Viertel der Stadt. Hatten die Marktfrauen in diesen düsteren Winkeln Beeren verkauft? Oder ließen die Gaukler hier ihre Bären tanzen? Man weiß es nicht. Aber die Touristen lassen sich in diesen uralten Mauern nur allzu gerne einen Bären aufbinden.
Warum also nicht Chur, wo es doch da so viele Geschichten gibt und noch dazu jede Menge Berge, die diese Alpenstadt umstellen wie eine Schweizer Armee? Die Stadt macht die Entdeckungen leicht. Rote Hinweistafeln markieren die Sehenswürdigkeiten und rote Pfeile weisen den Weg. Auch ohne Stadtführer oder AudioGuide können Touristen in dem lebhaften Städtchen kaum in die Irre gehen.
Info: Chur Tourismus, Bahnhofsplatz 3, Tel. 0041/81/2521818, E-Mail: info@churtourismus.ch, www.churtourismus.ch
Arrangement "Mittelalter-Erlebnis statt Midlife-Crisis" drei ÜF ab 270 Franken, inkl. ein mittelalterliche Abendessen, geführter Stadtrundgang, Eintritt ins Rätische Museum, in die Viamala-Schlucht bei Thusis, in die Kirche St. Martin u.a. Im Viersterne-Hotel ABC am Bahnhof kostet das Ganze im DZ 354 Euro.
Tipp: Einen schönen Blick auf Chur hat man vom Hausberg, dem Brambrüesch aus. Die Berg- und Talfahrt kostet 24 Franken. Im Bergrestaurant, das man bequem mit dem nostalgischen Tschu-Tschu-Bähnle erreicht, isst man reichlich und bodenständig. Bis 19. Oktober ist die Bahn täglich in Betrieb.