Mühlviertel: Die neue Lust auf Heimat

Vielleicht muss man so weit fahren, noch hinter Passau und über die Grenze, um so viel Bodenständigkeit zu finden, ein Gefühl für Heimatverbundenheit und Bauernstolz. Mühlviertel nennt sich die Gegend in Österreich, Stifterland ist sie – und Bauernland.
Die Landschaft ist geordnet in Felder, Wälder und Streuobstwiesen, als käme sie geradewegs aus dem „Nachsommer“ von Adalbert Stifter, dieses Poeten der Beschaulichkeit. Oben auf den grün gekämmten Hügeln sitzen behäbig mächtige Vierkanthöfe. Wenn es mehr sind, steht eine Kirche im Zentrum. Das sind dann die Dörfer. Fromm ist man und stolz. „Hier sorgen die Bauern für heimische Lebensmittel“, ist am Wegrand zu lesen. Die kleinen Straßen mäandern durch die hügelige Landschaft wie die Bäche, auf und ab geht es von einer grünen Kuppe zum nächsten Dorf oder zu einem der reizvollen Städtchen, wo barocke Häuser in Kandinskyscher Farbenpracht den Marktplatz säumen.
 

Waizenkirchen ist so ein Städtchen und der Gasthof Mayrhuber steht direkt gegenüber der imposanten Kirche wie es sich gehört. Drinnen eine rustikale Gaststube und dahinter ein wild bewachsener, gemütlich möblierter Garten mit alten Bauerngeräten und plätscherndem Brunnen. Überraschend schrill ist das Klo in pink und gold und überraschend vielseitig die Speisekarte mit österreichischen und italienischen Spezialitäten. Warum italienische Gerichte? Weil er Italien mag, sagt der Wirt, der gern mal über den Tellerrand hinausschaut.
Solche Überraschungen gibt es im Mühlviertel, das seinen Namen der Großen, der Kleinen und der Steinernen Mühl verdankt, immer wieder. In Unternberg nahe Neufelden etwa, wo  Joachim Eckl mit Heim.Art ein  künstlerisches Netzwerk geknüpft hat. Mit „sozialen Skulpturen“ und internationalen Projekten – u. a. der Teilnahme an Christos „Gates“ in New York – hat sich der 46-Jährige einen Namen gemacht. Das Zentrum seines Schaffens aber bleibt für den Weltenwanderer aus Haslach die alte Lagerhalle an der Großen Mühl. Hier schöpft er buchstäblich aus dem Vollen, lässt sich vom Fluss, den Menschen, der Natur zu Installationen und Happenings inspirieren. „Das ist halt Heimat“, sagt der Vielseitige mit den dunklen Künstlerlocken und den feingliedrigen Händen, und: „Wir versuchen, ein Feld so zu bestellen, dass wächst, was wir uns vorstellen.“ Künstler aus aller Welt hat er dazu schon ins Mühlviertel gebracht und in das Hotel Mühltalhof, das seine Frau und sein Schwager bewirtschaften und dem er einen futuristischen „Landeplatze für Ankommende“ hingestellt hat.
Manche der Künstler blieben gleich ganz im Mühlviertel wie der Engländer Nick Treadwell, der inzwischen in Aigen-Schlägel eine Kunstsammlung betreibt. Tiefste Provinz und doch ein guter Ort für Kunstsinnige, die auch im nahen Kloster Schlägel fündig werden. Die wohl bestallte Stiftsbibliothek wetteifert mit der urigen Stiftsbrauerei, Österreichs einziger Klosterbrauerei,  um die Gunst der Reisenden und führt neben tausenden alter Prachtbände und zahlreichen Inkunabeln Renaissance-Fresken und Intarsienschränke ins Feld. Und der Meierhof gegenüber dem Kloster zelebriert mit vielen Stücken aus dem bäuerlichen Alltag die gute alte Zeit. Kultur.Gut nennt sich die Dauerausstellung, die auf einer privaten Sammlung fußt. Mit Akribie hatte Josef Lehner die Alltagsgegenstände zusammengetragen. Dass der Sammler bei der Eröffnung der Ausstellung vor lauter Aufregung einen Herzinfarkt erlitt, erzählt der Pförtner im Kloster ganz nebenbei. Im übrigen sind die Prämonstratenser von Schlägl auf der Höhe der Zeit. Das Kloster ist an der Erschließung des Skigebiets Hochficht beteiligt, im Seminarzentrum sind auch weltliche Gäste willkommen. „Klösterliche Gastfreundschaft“ verheißt die Werbung. So bestellt jeder das Feld auf seine Art.                       
Agnes Eckerstorfer tut das in Haslach. Die resolute 55-Jährige mit dem runden, rotbäckigen Gesicht unter dem kurzen dunkelbraunen Haar betreut mit ihrem Mann das Webereimuseum im Herzen der kleinen Gemeinde. Das Mühlviertel ist auch Weberland. Flachs war das Gold der Gegend und die Leinenstoffe aus dem Mühlviertel weltbekannt. Mit exklusivem Design hat die Leinenweberei Leitner in Ulrichsberg nicht nur überlebt, sondern sich vor allem in deutschen Luxusläden einen Namen gemacht. So exklusiv sind die Produkte nicht, die Agnes Eckerstorfer mit traditionellem Muster   im Museum webt. In mühevoller Kleinarbeit wurden alte Webstühle repariert, so dass jetzt im Museum wieder die Weberschiffchen emsig hin und herflitzen. Denn auch ihr Ehemann kann weben. „Mein Mann ist pensionierter Postler“, erzählt die Kustodin, „aber er hat sich so in die Weberei reingesteigert, dass er jetzt alles kann.“ Von der Flachsaufbereitung bis zum fertigen Tuch ist im hier alles zu sehen. Viele Ausstellungsgegenstände haben die Bürger zusammengetragen, andere kamen als Geschenk von großen Unternehmen oder fielen bei Fabrik-Auflösungen ab. Das Museum im ehemaligen Schulhaus ist der Lebensinhalt des Paares. Jährlich 4000 Besucher kommen ins Haus, sagt Agnes Eckerstorfer mit Stolz in der Stimme, und sie kommen aus der ganzen Welt – bis von Grönland, China und Südafrika, wie das Gästebuch beweist. Lange werden die Eheleute nicht mehr die Regie im alten Schulhaus führen. Im Winter zieht das Webereimuseum um in das mit EU-Mitteln ausstaffierte TUK Vonwiller Museum auf dem ehemaligen Areal der Leinenwarenfabrik Vonwiller, die zur Biedermeierzeit den Ort beherrschte. 30 Millionen hat die EU für den Ausbau spendiert, auch mit Blick auf Linz 09, wenn die Landeshauptstadt Oberösterreichs sich als Kulturhauptstadt inszeniert. „So viel Geld“, wundert sich Agnes Eckerstorfer und denkt daran, dass sie sich in den kalten Wintern nicht mal eine Heizung fürs alte Webereimuseum leisten konnten. Von der riesigen geschnitzten Kastenmangel aus dem Jahr 1823 musste sie schon Abschied nehmen. Der Umzug hinterließ Spuren, denn das große Trumm ging nicht durch die Türen. Ein Fenster musste herausgebrochen werden, um die Mangel aus dem Haus zu hieven.
Das Museum Mechanische Klangfabrik ist schon eingezogen in die neuen lichten Räume und bespielt sie mit großer Resonanz. Aus der privaten Sammlung, lange Zeit Geheimtipp, ist ein echtes Museumserlebnis geworden. 150 Musikautomaten hat der ehemalige Webereibesitzer Erwin Rechberger zusammengetragen, pompöse Orchestrien sind darunter und verspielte  Drehorgeln, Walzenspieldosen und Grammophone –  eine singende, klingende Zeitreise mal heiter, mal melancholisch. 
Draußen orchestriert derweil der Regen sein eigenes Konzert. Dunkle Wolkenrudel jagen über den Ort, als sei der Teufel hinter ihnen her und packen den imposanten Wehrturm im Herzen der Altstadt in graue Watte. Ade schöne Aussicht. Ein Nebelvorhang legt sich vor das ehemalige Wohnviertel der Weber. 
Die Straße ist regennass, die sonnengelben Häuser liegen in der Mühl wie ertrunken. Die Hopfenstangen ragen dunkel und drohend in den Himmel wie eine grüne Wand und selbst die Dahlien in den gepflegten Bauerngärten hängen die Köpfe. Dann stehlen sich erste schüchterne Sonnenstrahlen durch die dicken Wolkenschichten und holen Felder und Dörfer aus dem Einheitsgrau wie Scheinwerfer.
Vielleicht lohnt er sich ja doch noch, der Moldaublick an der Grenze zu Tschechien. Kilometerlang ist die Anfahrt durch den dunklen, blickdichten Tann. Und wer wirklich die Moldau sehen will, muss am Ende auf einen  Holzturm steigen, der  – 24 Meter hoch – die Tannen überragt. Hinter dem schattigen Grün schimmert es blaugrau: die Moldau – aufgestaut zum dickbäuchigen Lipnosee und nicht mehr Stifters „träge schillernde Schlange“. Überhaupt hat sich so manches geändert in der Gegend. Seit der eiserne Vorhang gefallen ist, merkt man kaum mehr, dass man die Grenze passiert. Allerdings wird die Landschaft leerer, die Häuser sind kleiner und nicht ganz so proper,  die blühenden Geranien und farbenprächtigen Bauerngärten machen sich rar. Am Straßenrand verrotten Fabriken, am Ufer des Stausees schießen Feriendörfer aus dem Boden. Ganz Lipno scheint in niederländischer Hand, die Uferstraße ist voll von Autos mit gelben Nummernschildern. Dann die Zisterzienserabtei von Vyssi Brod (Hohenfurth), 1259 von Vok von Rosenburg gegründet und im Zweiten Weltkrieg von der SS beschlagnahmt. Seit 1991 können die Zisterzienser wieder über den Kern der Abtei verfügen und die imposante Kirche hat schon einen Teil des alten Glanzes zurückbekommen, der auch auf die schöne Stiftsbibliothek ausstrahlt. Doch gleich nebenan stehen pockennarbige Gebäude mit blinden Fensterscheiben. EU-Gelder sind hier bitter nötig. Am Straßenrand verkaufen Bauern körbeweise Beeren und Pilze. Kurz vor der Grenze werden sie abgelöst von Ständen, an denen es Klamotten, Kitsch und Krempel zu kaufen gibt. Ganze Märkte sind hier entstanden und ein ganzes Heer von Gartenzwergen ist angetreten. Noch ist alles billig hier, bezahlt wird in Kronen (1 Euro = 25 Kronen).
Die gigantischen Zollhäuser stehen leer, die Grenze ist nur mehr Erinnerung. Auch diese neue Grenzenlosigkeit gehört zum Mühlviertel – genauso wie die Heimatverbundenheit.   
           

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