Amelie Frieds „Schuhhaus Pallas“: Fragen, solange jemand noch Antwort geben kann

Schuhhaus Pallas. Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte
(Buch)
Autor: Amelie Fried
Verlag: Hanser Belletristik
Erschienen am: 2008-02-09
Seiten: 192
ISBN: 3446209832

Es war ein volles Haus am Münchner Jakobsplatz und Hanser-Verleger Michael Krüger stellte zu Recht fest, dass es etwas anderes sei, ob ein Buch (und das Hörbuch dazu) im Literaturhaus oder im Jüdischen Zentrum vorgestellt würde. Dass Amelie Fried ihr neuestes Buch „Schuhhaus Pallas“ gerade in diesem Umfeld präsentieren konnte, hängt natürlich auch mit dem Inhalt zusammen, der im Mikrokosmos einer Ulmer Familiengeschichte deutsche Vergangenheit widerspiegelt.

„Nichts ist normal an Amelies Geschichte“, sagte Krüger, „genauso wie nichts normal ist an der deutsch-jüdischen Geschichte“, in der aus netten Nachbarn plötzlich Juden wurden – „und irgendwann waren sie alle weg und Deutschland war judenfrei“. Dass die, die zuschauten oder gar mitmachten, „meine und Ihre Väter und Mütter“ waren, lässt Krüger keine Ruhe. Von den Opfern, die sich retten konnten, erzählten nur wenige, was ihnen widerfahren war. „Die meisten schwiegen mit zusammengebissenen Zähnen in einer schweigsamen Gesellschaft.“
Auch in Amelie Frieds Familie wurde geschwiegen. Dass sie das Schweigen brach, ist einem Zufall zu verdanken. Bei den Recherchen nach den jüdischen Opfern in seiner eigenen Familie (von denen er wiederum nur durch Zufall erfahren hatte), stieß Ehemann Peter Probst in New York auf die Namen Max und Lily Fried – „und da rief ich Amelie an“. Es war der Beginn einer über drei Jahre währenden Spurensuche erzählen beide auf dem Podium, ehe ihnen Ellen Presser, die Leiterin des jüdischen Kulturzentrums, das Grußwort von Charlotte Knobloch vorliest. Die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland warnt davor, die entsetzlichen Erfahrungen der Nazizeit zu verdrängen oder zu vergessen.
Wider das Vergessen schreibt auch Amelie Fried in ihrem Buch an, die Zeit drängt. Schon bald gibt es niemanden mehr, der die Hitlerjahre erlebt hat. „Ich wollte fragen, so lange mir noch jemand Antwort geben kann“, sagt sie. Ihr Vater habe mit seinen Kindern nicht über seine Erfahrungen gesprochen, mit seinen Enkeln konnte er es nicht mehr. Auch deshalb habe sie die Geschichte über eine Familie aufgeschrieben, die sie selbst erst kennen lernen musste. Plötzlich tat sich eine Türe auf zu einem lang verschlossenen Zimmer und sie hatte Angst, was sie dahinter vorfinden würde.
Die Karrierefrau – blondes Kurzhaar, schwarze Stiefelhose, goldene Kette über einem blauen Shirt, schwarzer Pashmina-Schal – wirkt verletzlich, wenn sie über diese Erfahrungen spricht. Über das Gute, das sie gefunden hat, und das Beschämende. Stolz ist sie auf den „listigen Großvater“, der sich gegen die Ungerechtigkeit wehrte, der „rechtschaffen war bis zur Selbstzerstörung“. Schuhhaus Palast nannte er das Geschäft, das er 1914 in Ulm eröffnete und als sich ein Ulmer Bürger über die „Hochstapelei“ beschwerte, tauschte er kurzerhand einen Buchstaben aus und machte es zum Schuhhaus Pallas.
Dass mit Pallas (Athene), der griechischen Kriegsgöttin, die Wehrhaftigkeit schon im Namen war, hat er wohl so gewollt. Jedenfalls hat er alles daran gesetzt, auch in den schwersten Zeiten das Schuhhaus und damit die Existenzgrundlage der Familie zu erhalten – selbst seine eigene Sicherheit. So schmiedete er 1937 mit einem Grazer Nazi einen „Plan fast Schwejkschen Zuschnitts“, die Existenzen zu tauschen. Alles sah nach einem Happy End aus „und dann kam der Anschluss und der schöne Plan war hinfällig“. Und dann entschied sich die Familie auf Anraten von Amelie Frieds Vater Kurt „wohl einhellig“ für den Weg, den Großvater zu opfern in der Hoffnung, dass doch nicht alles so schlimm werden würde. Die arische Mutter sollte sich scheiden lassen und so das Schuhhaus erhalten. In einem Brief nach der Scheidung versicherte die Großmutter: „Das Geschäft ist nunmehr frei von jüdischem Einfluss.“ Im Briefkopf hatte sie den Namen des Großvaters durchgestrichen „so wie sie ihn aus ihrem Leben gestrichen hatte“. Man sieht, wie nahe diese Geschichte Amelie Fried geht, sie streicht sich nervös über die Stirn, zieht das schwarze Tuch enger um sich, ganz so als spüre sie noch die Kälte dieser Entscheidung.
Schon als Kind hatte sie die Entfremdung zwischen Vater und Großvater gespürt – auch die zwischen den geschiedenen Großeltern. Heute weiß sie, wie ihr intellektueller Vater unter dem Schreibverbot der Nazis gelitten hat und dass er vielleicht auch auf seine Art versucht hat, zu retten was zu retten war. Doch den Akt der Selbstverleugnung, als er sich in seinem Lebenslauf den Nazis regelrecht anbiederte, „diese ausgeprägte Nazi-Terminologie“, konnte er sich wohl selbst nicht verzeihen. Die Tochter schämt sich noch heute dafür, und versucht doch zu verstehen: „Wer taugt schon zum Helden?“ Vielleicht war es ja die Scham, Opfer gewesen zu sein, das Schuldgefühl, überlebt zu haben, die ihren Vater, den erfolgreichen Verleger, schweigen ließ. Der Großvater überlebte durch Zufall, Amelies Onkel Max und ihre Tante Lily wurden nach Auschwitz deportiert. Als Peter Probst diese Passage über Leiden und Tod liest, versagt auch ihm fast die Stimme, er räuspert sich, rückt die dunkle Brille zurecht. Diese Familiengeschichte wirkt nach bis in die Gegenwart.
Und dann nach all dem Schrecken geht das Leben doch weiter. Die Frieds finden durch ihre Recherchen einen unbekannten Teil der Familie, einen Onkel Walter, der in einer Alteneinrichtung von Seattle lebt und der alles gesammelt hatte, was es von seiner Nichte zu lesen gab. Die Familie reist nach Amerika, um den 92-jährigen zu treffen, einen kleinen, zarten Mann – „aber ich erkannte sofort etwas Friedsches in ihm“, erinnert sich Amelie Fried und wundert sich „Das Leben schreibt schon merkwürdige Geschichten“. Dass sie das Buch so schnell geschrieben habe, sei auch diesem alten Mann in Amerika geschuldet, sagt sie dann: „Mir war es wichtig, das Onkel Walter dieses Buch noch in Händen hält.“
Peter Probst hat mit seiner neu gefundenen Verwandtschaft nicht so viel Glück. Zwei Tanten in New York schreiben ihm, sie hätten mehrere Konzentrationslager überlebt und fühlten sich außerstande, mit einem Menschen zu sprechen, der aus Deutschland kommt. Nur „Onkel Richard, der mir im Alter von 50 Jahren geschenkt wurde“ war bereit, die Wege in die Geschichte zu gehen, um eine vertrauensvolle Basis für die Zukunft zu schaffen. Mit der Rekonstruktion lokaler Geschichte will auch das Buch an die Gegenwart anknüpfen und Ellen Presser ist sicher: „Wenn Amelie Fried so etwas schreibt, schauen die Leute hin“. Geschichte über Geschichten vermitteln will die Autorin. „Für mich gibt es keinen Schlussstrich“, sagt sie bestimmt. Das volle Haus applaudierte laut und anhaltend. Und im Applaus ging die Aussage fast unter, dass heute jeder vierte Deutsche glaubt, der Nationalsozialismus habe auch seine guten Seiten gehabt.   
  
           

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