„Man muss sich anpassen in China, darf nicht mit dem Kopf aus der Masse rausschauen“, der stoppelhaarige Mönch lächelt, als er diese Weisheit verkündet. Und doch meint er es ernst. Hue Shoe lebt schon lange genug im Fokuangshan Tempel im Süden Taiwans, um die chinesischen Eigenheiten zu kennen. In seinem früheren Leben hieß er Gerhard Fröschl und wuchs in einem kleinen Ort in der Steiermark auf. Jetzt ist der 49-Jährige mit der großen Nase, der ovalen Intellektuellen-Brille und dem österreichischen Akzent so etwas wie ein Fremdenführer in der weitläufigen Anlage, die 1967 vom Großmeister Hsing Yun, einem aus China ausgewanderten Buddhisten gegründet worden war und jährlich Millionen von Besuchern anlockt.
Wie der heute 80-jährige Großmeister stammen die meisten der 23 Millionen Taiwanesen aus China. Ein Großteil kam mit den Einwanderungswellen im 17. und 18. Jahrhundert auf die Ilha Formosa, die „schöne Insel“, wie die portugiesischen Entdecker 1517 Taiwan nannten. Andere flüchteten aus dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Festland; und 1949, nach der Niederlage gegen die Kommunisten Mao Zedongs, wurde die Insel zum Rückzugsgebiet für zwei Millionen Anhänger der Volkspartei Kuomintang unter Chiang Kai-shek. In der Chiang-Kai-Shek-Gedächtnishalle in Taipei stehen noch die Dienst-Cadillacs des Diktators, der im Obergeschoss als 25 Tonnen schwere Statue thront. Starr schaut der Nationalheld auf das bunte Treiben in den Gärten.
Seit 1996 weht der Wind der Veränderung in Taiwan und hat der Insel nicht nur Demokratie und wirtschaftlichen Aufschwung beschert, sondern auch so manche Tradition hinweg geblasen. Zwar üben sich am frühen Morgen die Alten in den Gärten vor der Gedächtnishalle wie einst in Tai Chi, doch schon am Vormittag werden sie von Jungs mit Baseballmützen und Skateboards verdrängt, die sich mit kühnen Sprüngen über alle Begrenzungen hinwegsetzen.
In Taipei, der Hauptstadt der Insel, geben die jungen Leute den Ton an, vor allem in Ximending: Coole Jungs mit gegelten Haaren und bis in die Kniekehlen hängenden Jeans, aufgestylte, blondierte Mädchen in hohen Stiefeln und mit Miniröcken, die gerade noch die Pobacken bedecken – immer auf der Suche nach der neuesten Mode, dem hipsten Tattoo, dem trendigsten Handy. Kitsch in Pink rund um das Rote Theater, Boutiquen mit Klamotten und Klunkern, In-Cafes, Nagelstudios und Tattoo-Läden wie der von Kevin in der Tattoo-Street, wo der bullige Besitzer sich auf Fotos als der Pionier der Körpertätowierung in Taipei feiert. Eine Welt wie aus einem japanischen Manga.
Nur einen Katzensprung entfernt eine ganz andere Welt, eine Oase der Ruhe, belagert von gesichtslosen Wohnsilos: Der Longshan Tempel, fast drei Jahrhunderte alt. Frauen mit Wetter gegerbten Gesichtern verkaufen Orchideen oder schnitzen Gemüse für die Opferschalen. Alte Männer, klein geschrumpft vom langen Leben, lassen Gebetsperlen durch die Finger gleiten. Pärchen halten sich an den Händen, eine Mutter tröstet ihr greinendes Baby, eine junge Frau hält den Hund an der Leine. Es geht fröhlich zu im Tempel, man lacht, klatscht, telefoniert – und betet. Vielleicht auch dafür, dass Taiwan sich auch in Zukunft gegen den großen feindlichen Bruder China behaupten kann.
Denn der Archipel ist ein echtes Gusto-Stückchen, das schon lange Pekings Appetit anregt. Als einer der vier asiatischen Tiger hat das Inselreich eine boomende Volkswirtschaft geschaffen. Vor allem im IT-Bereich hat Taiwan die Nase vorn: 83 Prozent aller Notebooks und 70 Prozent aller LCD Monitore kommen aus Taiwan. Technology, Art, Innovation, People, Environment, Identity (Technologie, Kunst, Innovation, Volk, Umwelt, Identität) buchstabieren die Taiwanesen stolz ihre Hauptstadt Taipei und der Taipei 101, mit 509 Metern der zweithöchste Turm der Welt – nur der Burj Dubai ist noch höher -, ist Ausdruck dieses Stolzes. Filigran wirkt er trotz der Höhe, wie ein gigantischer Bambus. Um ihn herum entsteht das neue Taipei mit viel Glamour und Glitter, spacigen Hochhäusern, noblen Designerläden und schönen, teuer gekleideten Menschen. Im Innern des Turms befördern die schnellsten Lifte der Welt die Besucher in rund 40 Sekunden vom fünften direkt in den 89. Stock. Vor den Panoramafenstern breitet sich die Millionenstadt aus und der Audioguide berichtet quäkend, was aus dem Siedlungsteppich herausragt.
Zum Beispiel das National Palace Museum, das die weltgrößte Sammlung alter chinesischer Kunst hütet. 180 Jahre, heißt es, würde man brauchen, um alle Schätze des Museums zu sehen. Um möglichst viele der wertvollen Stücke zu präsentieren werden die – übersichtlichen – Ausstellungen immer wieder neu bestückt. „Beutekunst“, giften die Festlandschinesen, denn so manche Elfenbein- oder Jadeschnitzerei aus der Mingzeit würde auch dem Palace Museum in Pekings verbotener Stadt gut zu Gesicht stehen.
Bei so viel chinesischer Kultur vergisst man leicht, dass auf Taiwan auch noch andere Volksstämme leben. Mit 140 000 sind die Amis die größte der 13 anerkannten Volksgruppen. Gerade mal zwei Prozent der Bevölkerung machen die Menschen polynesischen Ursprungs aus. Lange Zeit waren sie unterdrückt, durften weder die eigene Sprache sprechen noch die Traditionen leben. Heute pflegt der Inselstaat auch dieses Erbe und ermuntert seine „Aborigines“ zu touristischen Aktivitäten. Das Mataian Aboriginal Village war 2007 die Nummer 1 im Ökotourismus und gibt seine Erfahrungen an das Kommittee der Urvölker weiter. „Wir zeigen den Gästen wie unsere Vorfahren lebten“, erklärt Lamen (24). Die junge Frau in Jeans und Pullover mit der modischen Brille und dem Kurzhaarschnitt wirkt so gar nicht folkloristisch. Eher würde man sie in einem Büro erwarten oder an der Universität. Studiert hat Lamen auch, englisch und japanisch. Und jetzt lädt sie Touristen zur Zeitreise in eine andere Zivilisation.
Als Fischer verdienten die Amis über Jahrhunderte ihren Lebensunterhalt. Für die Zucht bauten sie mehrstöckige „Häuser“ aus Stöcken, Bambusrohren und Gras. „Wir machen die Fische glücklich, ehe sie gefangen werden“, versucht Lamen eine Erklärung und schaut Hilfe suchend zu ihrem Vater Lalan. Der entpuppt sich als begnadeter Alleinunterhalter, spielt mit Händen und Füßen vor, was seine Tochter erzählt. Dabei hat bei den Amis eigentlich die Frau die Hosen an. Sie leben im Matriarchat – bis heute. Und was sagt Lamens Freund dazu? Stört es ihn? Die junge Frau kichert errötend. Nein, sagt sie, es störe ihn nicht: „Er hat doch Glück, weil er mich hat.“ Vater Lalan lacht beifällig. Der junge Mann wird wohl mit der Familie im Dorf leben – solange es Lamen gefällt. Wenn sie von ihm genug hat, muss sie nur das Küchenmesser aus dem Haus werfen. Dann wird geschieden. Doch daran denkt Lamen noch nicht, lieber träumt sie von der Hochzeit, die bald ins Haus steht.
Die Familie wird auch im modernen Taiwan hoch gehalten. „Friede in der Familie“ ist der erste Wunsch auf der Vorschlagsliste, die im Fokuangshan Tempel neben der großen Glocke hängt. Wer sie schlägt, hat drei Wünsche frei. Auf „Frieden in der Familie“ folgen „Gesundheit“ und „große Weisheit“. Klingt doch gut. Hue Shoe grinst. Der Mönch aus Österreich lässt sich nichts vormachen. „Die meisten Taiwanesen haben drei Wünsche“, sagt er nüchtern: „Eine Million US-Dollar, eine Million US-Dollar und noch eine Million US-Dollar.“ Ehrgeiz und Strebsamkeit haben das Inselreich voran gebracht – und ein gewisser Größenwahn. Der macht sich auch im Tempel bemerkbar, der stellenweise wie ein buddhistisches Disneyland wirkt. „Im Chinesischen gibt es keinen Ausdruck für Kitsch“, sagt Hue Shoe entschuldigend und verweist lieber auf die 14800 Buddha-Statuen im Hauptschrein und den über 120 Meter hohen Gold-Buddha, der über den 480 in Reih und Glied betenden steinernen Buddha-Statuen aufragt. Wahrlich ein Wahrzeichen. Doch so ganz trauen die Mönche dem himmlischen Frieden wohl nicht. Taiwans Riesen-Buddha verfügt über einen Blitzableiter und ein Blinklicht für Flugzeuge. Sicher ist sicher.