Sie trägt eine schokoladenbraune Schürze samt schokoladenbrauner Umhängetasche: Anne-Marie Bosson, zierlich, dunkle Locken, schmales Gesicht, ist eine der Hüterinnen der Cailler Schokoladenfabrik und sie führt ihre Besucher mit viel Charme auf den Weg der sinnlichen Genüsse. Vor lauter Begeisterung werden selbst Senioren wieder zu Kindern und können sich freuen wie Charlie in der Schokoladenfabrik. Nur der schrille Willi Wonka fehlt noch, um die Illusion perfekt zu machen.
Anne-Marie lacht fröhlich und erzählt, dass der bekannte Architekt Jean Nouvel die Schokoladenwelt inszeniert habe. 1000 Besucher täglich danken es ihm. Willkommen auf dem Weg der fünf Sinne:
Wir sehen Wände so schwarz wie Bitterschokolade, transparente Vorhänge, schimmernde Spiegel. Wir sehen alte Schokoladenformen, Werbeplakate, Bilder der früheren Fabriken, Lebensläufe der Schokoladenpioniere. Anne-Marie stellt vor: Henri Nestle (entdeckte das Schokoladenpulver), Francois-Louis Cailler (gründete die erste Schokoladenfabrik in der Schweiz), Daniele Peter (erfand die Milchschokolade) und Charles-Amedee Kohler (rührte als erster die Nussschokolade an). Wir sehen alte Bilder der ersten Schokoladenfabrik in Broc von 1898. Zur Hoch-Zeit 1919 arbeiteten hier 2000 Menschen, erklärt Anne-Marie, heute sind es noch 400 fest Angestellte und einige Zeitarbeiter. Die Roboter haben die meiste Arbeit übernommen.
Wir riechen Kakaobohnen, die in Säcken aus Südamerika kommen. Wir riechen Haselnüsse, schnuppern Kakaobutter.
Wir fühlen die Säcke, können die Bohnen, die Nüsse mit den Händen greifen, den Zucker durch die Finger rieseln lassen.
Wir hören die Maschinen stampfen und rasseln (und sehen Projektionen der Verarbeitung – Rösten, Mischen, Walzen, Pressen, Gießen, Verpacken – an den Wänden und auf dem Fußboden). Anne-Marie zeigt uns die einzelnen Vorgänge, erklärt die Kapazitäten: Unglaubliche 120 bis 140 Tafeln pro Minute schafft die Verpackungsmaschine (Die könnte glatt den fetten Augustus Glupsch so nebenbei mitverpacken).
Dann ist es soweit: Wir schmecken die fertige Schokolade, milchkaffeebraun, schwarz oder weiß, in Tafeln, Plättchen und in Pralinen. Ein vollkommener Genuss. Mmm! Zu dumm, dass wir nicht so ausgehungert sind nach Süßem wie es Charlie war. Anne-Marie will es gar nicht glauben, dass wir nicht beherzter zugreifen. „In der Schweiz“, so sagt sie, sei der Appetit nach Schokolade ungebrochen: „Zehn Kilogramm essen die Schweizer pro Person und Jahr, Babys und Uromas inklusive – genauso viel wie Nudeln.“ Wir wundern uns. Doch die Gruppe älterer Besucher, die vor uns mit dem Bus vorgefahren waren, bestätigt, was Anne-Marie gesagt hat. Sie kosten mit vollen Backen und bald sind die zuvor noch überladenen Versuchsteller leer gegessen. Aber wie durch Zauberhand (agiert da doch ein Willi Wonka im Hintergrund?) sind sie im Nu wieder gefüllt.
Anne-Marie lotst uns weiter und gönnt uns noch einen Blick in die Geschichte mit alten Dokumenten (15 Rappen pro Stunde verdiente ein junger Mitarbeiter 1905) und Geräten wie einer hölzernen Maschine zum Reinigen der Kakaobohnen. Dann sind wir schon fast in der Gegenwart angekommen: durch eine Glaswand können wir die reale Schokoladenfabrikation beobachten – eine Art Laboratorium, in der unsichtbare Geister rösten, mahlen, walzen, pressen, rühren. Kurz vor dem Ausgang schickt uns Anne-Marie ins Kino, wo der gesamte Senioren-Bus schon im roten Plüsch Platz genommen hat und gerührt verfolgt, wie ein kleines Mädchen an ihrem Geburtstag davon träumt,eine Schokoladenfabrik zu besuchen.
Für Anne-Marie ist der Traum Wirklichkeit geworden. Sie ist zwar nicht Besitzerin einer Schokoladenfabrik wie Charlie. Aber etwas Schöneres als Führerin bei Cailler zu sein könne sie sich gar nicht vorstellen, sagt die junge Schweizerin mit treuherzigem Augenaufschlag – und Schokolade esse sie immer noch für ihr Leben gern.
Info: Die Cailler Schokoladenfabrik in Broc (bei Bulle im Greyerzer Land) ist Mo-Fr von 9.30 bis 16 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei. Eine Führung kostet fünf Franken: www.cailler.ch