Sie kamen übers Meer aus Nordafrika, vielleicht auch aus Europa, vor langer, langer Zeit. Sie waren groß und blond oder klein und dunkelhaarig. Sie besiedelten die Inseln im Atlantik, bauten runde Häuser aus Lavasteinen oder richteten sich in den Höhlen der Berge wohnlich ein. Sie beteten zu Fruchtbarkeitsgöttern, mumifizierten ihre Ahnen und glaubten an ein Leben nach dem Tod. Die Guanchen waren die ersten Bewohner der kanarischen Inseln und ihre Kultur fiel nach der spanischen Eroberung im 15. Jahrhundert für lange Zeit der Vergessenheit anheim. Heute aber in Zeiten der Autonomiebewegungen besinnen sich die Canarios auf die Geschichte ihrer Inseln. Und für die Nachkommen der spanischen Eroberer wird die Kultur der Guanchen zum Ausdruck ihrer Eigenständigkeit.
Galdar im Norden der Insel. Am Fuß der Pyramide des Pico de la Atalaya ist die Landschaft bunt gesprenkelt, als hätte eine Riesenhand die pastellfarbenen Häuser hingewürftelt. Das Städtchen war einmal die Hauptstadt Gran Canarias. Heute beherbergt der Ortskern eine archäologische Sensation, die Cueva pintada, die bemalte Höhle. Eine Nachbildung der bedeutenden Kultstätte mit den geometrischen Motiven in Rot, Schwarz und Weiß ist im Museum der Kanaren in Las Palmas zu sehen. Doch wer die Möglichkeit hat, das Original zu sehen, sollte sich das nicht entgehen lassen. Seit drei Monaten hat das neue Museum in einem lavaroten Kubus im Zentrum geöffnet und die Inselbewohner pilgern in Scharen zu der Ausgrabungsstätte und lassen sich von Filmen und Fundstücken in die Vergangenheit entführen.
Der gut aussehende Guanarteme, wie die Guanchen ihren König nannten, hat sich mit den Zeichen seiner Würde geschmückt. Jede Sippe hat ihre eigenen Siegel, die wie ein Stempel auf die Haut gedrückt werden. Er muss mit den Würdenträgern und den Priestern eine wichtige Entscheidung fällen. Wie soll man mit den fremden Eindringlingen verfahren, die mit Schiffen auf die Inseln gekommen sind und im Zeichen des Kreuzes den Guanchen ihre Kultur predigen? Der Guanarteme macht sich Sorgen um sein Volk. Er ahnt, dass der Widerstand zwecklos sein wird, dass das Ende gekommen ist.
Der Pfeil, der den mutigen Krieger niederstreckt, landet in der Brust der Besucher. Der Film im Museum, der den heroischen Kampf der Guanchen gegen die spanischen Eroberer feiert, arbeitet mit 3D-Effekten. Beeindruckt verlassen die Besucher den Filmraum. Auf einer Riesenleinwand sehen sie, wie die Guanchen gelebt haben, wie sie ihre Steinzeitwerkzeuge hergestellt und ihre Höhle bemalt haben. Dann verschwindet die Leinwand wie von Zauberhand und gibt den Blick frei auf den archäologischen Park von Galdar, ein Ansammlung von Rundhaus-Fundamenten. Stege führen über und in diese Ausgrabungen, auf Videos wird erklärt, wie das, was man sieht, einzuordnen ist. Das Herz des Ganzen aber ist die Bemalte Höhle, in der auch die Mumien gefunden wurden, die heute im Museum von Las Palmas zu sehen sind.
Es war purer Zufall. Ein Bauer hat vor einem Jahrhundert unter einer Bananenplantage die wohl künstlich in den Tuffstein gehauene Höhle und mit einem geometrisch gestalteten Fries geschmückte Höhle gefunden. Noch heute leuchten die Naturfarben der Dreiecke, Rauten und Zickzacklinien. Aber mittlerweile schützt eine Glaswand die Malerei vor dem zerstörerischen Atem der Besucher. Zum Anfassen dagegen sind die Nachbauten der Rundhäuser. Hier kann man auf den mit Fellen drapierten Holzbetten Platz nehmen und sich in eine Geschichte träumen, von der nur noch Spuren und Skelette übrig geblieben sind. Eindrucksvoll sind diese Spuren allemal.
Der Höhlenspeicher von Valeron etwa, der wie eine riesige Bienenwabe im Berg hängt. Auch er soll in naher Zukunft für die Öffentlichkeit zugänglich werden. Oder die Höhlensiedlung im Barranco de Guayadeque bei Agüimes, ein weit verzweigtes Netz von Höhlen, von denen einige noch bewohnt sind. Die heutigen Bewohner sind von der Steinzeit allerdings weit entfernt. Antennen und Stromleitungen deuten darauf hin, dass sie im Internet-Zeitalter angekommen sind. Die archäologischen Fundstellen sind über die ganze Insel verstreut, von Mogan im Süden bis nach Galdar im Norden, von Telde im Osten bis nach Agaete im Westen.
Im Museum von Las Palmas können sich die Besucher einen Überblick verschaffen und im Saal der Mumien einen makabren Thrill dazu. In den verglasten Regalen an den Wänden reihen sich die Totenschädel und die Hüftknochen. Und in den großen Vitrinen liegen die Mumien, die einst sorgsam in Ziegenleder gehüllt waren und schon längst skelettiert sind. Grabbeigaben wie Tontöpfe und kleine Götterfiguren, Pintaderas (Siegel) und Schmuckstücke belegen, dass die Guanchen wohl an ein Leben nach dem Tod glaubten. Vielleicht fließt ja doch noch Guanchen-Blut in einigen Einwohnern von Gran Canaria. Auch wenn von den 20 bis 30\x0e000 Ureinwohnern der Insel gerade mal 300 übrig geblieben sein sollen.
02Nov. 2006