Marseille macht Mode

„Marseille hat viele Gesichter“, sagt Josiane, die
Kunsthistorikerin. „Sie finden sicher eines, das Ihnen gefällt.“ Wie wäre es
beispielsweise mit der Mode? Seit einigen Jahren ist Marseille eines der
Hauptzentren für französische Mode, 30 000 Menschen arbeiten allein im
Modesektor. Viele junge Designer haben sich in der Stadt am Meer angesiedelt,
die lange Jahre als Tor zum Orient galt und in der sich bis heute die Kulturen
mischen wie in keiner anderen Stadt Frankreichs. Diese Mischung findet sich
auch in der Mode wieder – vor allem der jungen Designer.

Nicolas Douyer gilt
mit seinen 37 Jahren noch als junger Modeschöpfer. Vor acht Jahren hat er mit
staatlicher Hilfe das Label Tcheka gegründet, heute gehen seine fröhlich-bunten
Klamotten auch in Österreich, Holland und der Schweiz über den Ladentisch.
Douyer, ein hagerer Typ mit Baseballmütze, dessen asketisches Gesicht durch den dunklen
Bart noch schmäler wirkt, ist Autodidakt.
Er kommt aus der Landwirtschaft und hat bei der Mama die Liebe fürs Schneidern entdeckt.
„Irgendwann habe ich dann begonnen, eigene Klamotten zusammenzunähen und
schließlich habe ich meine eigene Marke kreiert“, erinnert sich Douyer an seine
Anfänge. 6000 Euro bekam er 1998 vom Staat geschenkt, weitere 6000 konnte er
sich zu günstigen Bedingungen leihen. Die Marke Tcheka war geboren, ein Label
für günstige Preise und originelles Design.

Nein, er habe bei seinen Entwürfen nicht nur junge
Mädchen im Sinn, sagt der Designer und seine blauen Augen können einfach nicht
lügen. Es gehe ihm um eine breite
Palette tragbarer Mode für Frauen zwischen 25 und 40. Die Luxus-Couture, wie
sie auch in Marseille gerne zelebriert wird, ist sein Ding nicht. „Ein Rock
sollte nicht mehr als 60 Euro kosten“, erklärt er kategorisch. Damit er solche Preise
halten kann, wird Douyer im nächsten Jahr seine Fertigung nach Tunesien
verlegen. Klar, er würde schon lieber weiterhin in Marseille produzieren, aber das
könne er sich nicht mehr leisten. „Dann würde die Marke Tcheka vom Markt
verschwinden“, fürchtet er. Außerdem: „Die Tunesier sind unsere Brüder“. Da
sehe er sich als „globalen Unternehmer“. Noch ist seine Welt eher klein: In winzigen Zimmern über dem Laden, in dem
sich 25 junge Designer präsentieren können, werden die Prototypen
geschneidert, Winterröcke mit
Kinderzeichnungen, Kapuzenjacken mit
kunterbunten Reißverschlüssen, farbenfrohe
Plüschpullover. Auch (kostenlose)
Änderungen werden hier gemacht. Denn Douyer will, dass seine Mode nicht nur
tragbar ist, sondern auch perfekt sitzt. Da hat er seinen Stolz. Qualität muss
sein.

Vielleicht schafft er es so ja
auch mal ins Modemuseum in der Canebiere, Marseilles Hauptgeschäftsstraße. Das
Museum besitzt eine Sammlung von mehr als 6000 Kleidungsstücken aus mehr als 80
Jahren Modegeschichte mit Schwerpunkt Mittelmeer-Mode. Diese Schätze werden in
wechselnden Ausstellungen präsentiert. Heiß war das Thema des Sommers
„Dress-Code: Cocktailkleider“ weckte
Erinnerungen an 50iger-Jahre-Schick, an Courreges, Minikleider und große Auftritte. Eine feste
Einrichtung ist das
Dokumentationszentrum mit Büchern, Video-Kassetten und Zeitungsartikeln.

20 Modeschulen gibt es in
Marseille und viele kleine originelle
Modegeschäfte. In der Rue de la Tour etwa, auch als Rue de la Mode bekannt.
Arrivierter ist Marianne Cat, die ihre „Galerie“ in einem luxuriösen Gebäude
aus dem 18. Jahrhundert hat. In repräsentativen Räumen präsentieren sich die
einzelnen Modelle zwischen antiken Möbeln im Licht gigantischer Lüster. Wer eine dicke Brieftasche hat, kann
hier alles kaufen vom Make-up bis zum Abendkleid, von der Handtasche bis zum
Spiegelschrank. Marianne Cat, selbst Künstlerin und Designerin, hatte es sich
zur Aufgabe gemacht, jungen noch unbekannten Modeschöpfern ein Forum zu bieten. Das Konzept war von Anfang an
erfolgreich, heute kann die 50-jährige es sich leisten, ihre Kunden statt in simple Verkaufsräume in ein Universum der Mode
einzuladen.

Davon, dass Mode in Marseille
Tradition hat, kann man sich im Chateau
Gombert
überzeugen, in einem eher dörflichen Teil dieser Stadt mit den vielen
Facetten. 111 Viertel hat Marseille, „jedes wie ein Dorf mit eigener
Identität“, hat Josiane erzählt. In den stillen Straßen von Chateau Gombert ist von der Hektik der Mittelmeer-Metropole
nichts zu spüren. Neun Kilometer vom
quirligen Zentrum entfernt hat Julien Pignol, ein Freund des provencalischen
Dichters Frederic Mistral, ein kleines Museum des provencalischen Alltags
begründet. Und hier sind Kleider aus dem
17. und 18. Jahrhundert zu bewundern, aus einer Zeit, da Marseille eine
Hochburg in Sachen Mode war. Bedruckte
Baumwollblusen a l’Indienne waren damals en vogue und Marseille hatte das Monopol.
Der Stoff, aus dem die damaligen Modeträume geschneidert wurden, kam mit dem
Baumwollschiff aus Indien – und mit der
Baumwolle kam 1720 auch die Pest nach Marseille. Der Preis der frühen
Globalisierung.

Schon lange ist in der
zweitgrößten Stadt Frankreichs die Welt zu Hause. Es gibt Marseillaiser mit
dunklen Gesichtern und solcher mit Schlitzaugen, Bürger mit glatten blonden
Haaren und mit schwarzem Kraushaar. Man
trifft sie in der Kirche Notre Dame de
la Garde
, die über die Stadt wacht und im Stadion von Olympique Marseille, in
den Bars, Restaurants und Cafes – am
buntesten ist das Völkergemisch im alten Stadtviertel, dem Panier, oder am
alten Hafen. Und an lauen Abenden wird die Uferpromenade zum Laufsteg. Dann tragen Frauen und Mädchen selbstbewusst
ihre neuesten Klamotten zur Schau. Wahrscheinlich sind in diesem Herbst auch
die kuscheligen Plüschjacken von Tcheka dabei.

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