Die Sonne brennt noch nicht wie gewohnt. Sogar ein paar Wolken ziehen auf, viel versprechend. Unser
Führer Nick mit dem langen Haarzopf hat viel zu erzählen über die Pflanzen, die
uns den schmalen Weg streitig machen: wilder Fenchel, Johannisbrot-Sträucher,
Kapern und viele Disteln. Lange Hosen wären nicht schlecht. Aber wer denkt
schon auf Malta an lange Hosen? Nick will uns das andere Malta zeigen. Nicht
das der Kreuzritter oder das der Megalith-Tempel, nicht das der Sprachschüler
oder der Bade-Touristen. Nein, dieses Malta will erwandert werden.
Die Dwejra Lines weisen
uns den Weg, jene Befestungsmauern, die von den Briten im 18. Jahrhundert
erbaut wurden und die Malta in zwei Teile zerschnitten. Denn es galt, die
Hauptstadt Valetta vor möglichen Eindringlingen zu schützen. Vier Forts gehören
zur Befestigung, eines liegt am Weg, großenteils in Trümmern. Aber die Wucht
der Bauwerke ist unter dem Gestrüpp noch zu erahnen. Ein Stück weit begleitet
uns ein tiefer Graben, auch er Teil der Absicherung gegen Feinde, die vom Meer
her erwartet wurden – und niemals kamen. „Die britischen Soldaten, die mit
ihren Gewehren diese Mauern bewachten, hatten einen langweiligen Job“, konstatiert Nick nüchtern. Die wirkliche
Gefahr für Malta kam schließlich aus der Luft: im Zweiten Weltkrieg versank der
britische Stützpunkt in einem Bombenhagel: 35000 Häuser waren zerstört.
Heute wird auf Malta nur
mehr während der Jagdzeit scharf geschossen – auf Singvögel. Nick weiß, dass
diese maltesische Leidenschaft bei den meisten Besuchern nicht gut ankommt,
aber „ein Jagdverbot hätte einen Ausnahmezustand auf der Insel
heraufbeschworen“. Für das neue EU-Mitglied gibt es jetzt eine Ausnahmeregel.
Während der Jagdsaison, die von Mitte Oktober bis Ende Januar dauert, muss wohl
hinter jedem Busch ein Jäger sitzen, denn der Weg ist von Patronenhülsen
übersät. Die Jäger machen auch deutlich, wer auf der Insel das Sagen hat. Die
Wanderer sind es nicht. Zwar hat man diesen Weg entlang der Dwejra Lines
offiziell für Wanderer markiert. Aber die Jäger haben alle Markierungen in
einer Nacht- und Nebelaktion wieder entfernt. Sie wollen vermeiden, dass
Wandergruppen ihre Beute in die Flucht jagen. 32 Vogelarten stehen auf der Jagdliste
der maltesischen Jäger, darunter so seltene wie Stieglitz, Hänfling, Zeisig,
Girlitz und Zwergschnepfe. Lebend gefangen fristen die Singvögel ihr weiteres
Leben als „Haustiere“ in winzigen Käfigen.
Jetzt sind die Jäger noch
nicht unterwegs. Vögel zwitschern in den Sträuchern, Eidechsen und Geckos
huschen über den Weg. An einem einsamen Haus empfangen uns Hunde mit
wütendem Gebell. Ein paar Ziegen zupfen zwischen den schroffen Felsen Gräser,
Schmetterlinge wiegen sich im lauen Wind, Grillen zirpen. Viel mehr Tiere gibt
es nicht auf dem kargen Eiland. Nick macht uns auf ein Taubenhaus am Wegrand
aufmerksam, das aus dem Fels gehauen wurde. „Columbarium hieß es bei den
Römern, die auch schon Brieftauben zur Nachrichtenübermittlung nutzten.“ Heute
vergnügen sich die Malteser bei Flugwettbewerben.
Wir kommen an einem
Meilenstein vorbei, auf dem die Entfernung nach Valletta eingeritzt ist.
„Solche Meilensteine“, weiß Nick, „wurden in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts von den Briten aufgestellt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde
die Markierung zerstört, um bei einer Invasion die Eindringlinge irrezuführen.“ Unser Weg wird felsig und
wir sind froh, dass wir die festen Wanderschuhe im Gepäck hatten. Und dann
fühlen wir uns plötzlich nach China versetzt. Ein Teilstück der Befestigung,
das über einen Taleinschnitt führt, wirkt, als hätte man die chinesische Mauer
nach Malta transplantiert.
Am Ende des Weg steht eine Kapelle, die der „Lieben
Frau vom Weg“ gewidmet ist. Seit dem 17. Jahrhundert überblickt das Kirchlein
das fruchtbare Tal und die Felsenhöhlen, die möglicherweise von den frühen
Christen als Versteck genutzt wurden. Die Malteser sind streng katholisch und
auf den Inseln kann man jeden Tag in eine andere Kirche gehen. Beten kann man aber
auch am Straßenrand, an Säulen, die kleinen Kapellen ähneln.
Unser Weg führt uns jetzt
über die Straße hinunter nach Mgarg, dem kleinen Ort mit der großen Kirche. 34
Jahre hat es gedauert, bis dieser imposante Kirchenbau mit der eiförmigen
Kuppel vollendet wurde. 1946 wurde die Kirche, die der Himmelfahrt Mariens
gewidmet ist, eingeweiht. Damals begannen friedliche Zeiten für Malta, aber
erst 1964 entließen die Engländer die Insel in die Unabhängigkeit. Die
Befestigungsanlagen der Dwejra Lines sind seither endgültig Geschichte.
29Aug. 2006