Ein Traktor fährt an die Spitze: Marina Lewyckas „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“

Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch. Roman
Autorin: Marina Lewycka, Elfie Hartenstein
Verlag: Dtv
Erschienen: Oktober 2006

Nadia und Vera mögen einander nicht, auch wenn sie Schwestern sind. Zehn Jahre ist Vera älter als Nadia und deshalb weiß sie soviel mehr aus der Familiengeschichte, die in der Ukraine begann und in England ihre Fortsetzung fand. Als die Mutter der beiden starb, stritten sich die Schwestern ums Erbe. Doch jetzt braucht Nadia die ältere Schwester, denn der Vater ist mit seinen 84 Jahren frisch verliebt – in eine 36-jährige Ukrainerin, die mit ihrem Sohn Stanislav im goldenen Westen ihr Glück sucht. Valentina, die Frau „mit dem Boticelli-Busen“ bringt nicht nur die Schwestern wieder zusammen, sie bringt auch „den ganzen Morast längst versunkener Erinnerungen wieder an die Oberfläche und trat unseren Familiengespenstern kräftig in den Hintern“.
So viel hat die in England geborene Nadia, das Friedenskind, nicht
gewusst. So viel hat Vera, das Kriegskind, verschwiegen. Valentina mit
ihrer grünen Satinunterwäsche, ihren Fertiggerichten und ihrer Vorliebe
für große Autos und tatkräftige Männer macht aus den zerstrittenen
Schwestern Verbündete. Zusammen wollen Vera und Nadia Väterchen Nikolaj
aus den Klauen der „falschen Schlange“ retten. Doch der alte Nikolaj
blüht auf, er träumt von einem Leben an der Seite der vollbusigen
Schönheit und ist bereit, diesem Traum seine Rente und seine
Ersparnisse zu opfern. Gleichzeitig beflügelt die späte Liebe seine
Schaffenskraft und er macht sich an die „Kurze Geschichte des Traktors
auf Ukrainisch“. Sie erzählt von den dramatischen Auswirkungen der
Industrialisierung auf die globale Landwirtschaft und von Stalins Wüten
in der Ukraine und den Gräueln der Nazizeit im Besonderen. Ganz
allmählich, während sich die Schwestern einen knallharten Kampf mit der
inzwischen zu ihrer Stiefmutter avancierten Valentina liefern, erfährt
Nadia die tragische Vorgeschichte ihrer Eltern und sie muss sich – auch
angesichts Valentinas verzweifelter Versuche, in England Fuß zu fassen
– eingestehen: „Ich hatte Glück. Ich bin zum richtigen Zeitpunkt zur
Welt gekommen.“
Marina Lewycka, die selbst nach dem Zweiten Weltkrieg als Kind
ukrainischer Eltern in einem Flüchtlingslager geboren wurde und in
England aufgewachsen ist, hat in ihrem ersten Roman wohl auch einen
Teil ihrer eigenen Geschichte verarbeitet. Die „Kurze Geschichte eines
Traktors auf Ukrainisch“ beförderte die Universitätsdozentin in England
völlig überraschend auf die Erfolgsspur und wurde mit Preisen
überhäuft. Der schräge Familienroman hat nicht nur wunderbar skurrile
Charaktere und eine herzerwärmende Situationskomik. Er setzt sich auch
mit viel Tiefgang mit dem derzeit höchst aktuellen Thema der Freiheit
auseinander: Was macht Unfreiheit aus den Menschen? Wo endet die
Freiheit des alten Nikolaj, selbst über sein Glück (oder Unglück) zu
entscheiden? Wo beginnt die Freiheit Valentinas, am Wohlstand des
Westens teilzuhaben? Am Ende weiß Nadia, dass ihre Eltern keine Helden
waren. Aber „sie haben überlebt. Nicht mehr und nicht weniger“.

Info: Marina Lewycka, Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch, dtv, 360 S. 14 €. Erscheint im Oktober

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