Zum Paarsein verdammt: Bodo Kirchhoffs „Die Liebe in groben Zügen“

Sie sind ein altes Paar, Renz und Vila. Haben sich eingerichtet in der gutbürgerlichen Mitte, sie als Kulturredakteurin im Fernsehen, er als Serien-Drehbuch-Schreiber. Mit einer Altbauwohnung in Frankfurt und einem Haus am Gardasee. Die beiden sind – gelegentliche Seitensprünge inbegriffen – mit einander älter geworden – er ein Mittsechziger, sie Anfang 50 – und verstehen es immer noch, mit einander zu feiern, zu reden, zu kämpfen und -ja, auch das, sich zu lieben. 

Doch als die Tochter schwanger wird, überfällt Vila die Angst vor dem Alter. Auch Renz will sich noch lange nicht auf dem Altenteil sehen und beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit seiner wesentlich jüngeren Producerin Marlies, während Vila sich dem Gardasee-Wintermieter annähert, Bühl, einem ehemaligen Lehrer, der ein Buch über Franz von Assisi schreiben will. Auch er deutlich jünger als sie. Nachdem die Tochter abgetrieben hat, fühlt sich Vila frei für ein erotisches Abenteuer und sie stürzt sich mit Verve in die Affäre zu dem beziehungsunfähigen, grüblerischen Franziskus-Forscher. 
Bodo Kirchhoff schafft Charaktere, das hat auch die Rezensentin der FAZ registriert. Und die sind sperrig, man identifiziert sich nicht leicht – weder mit der liebeshungrigen Vila noch mit Renz, der seine junge, krebskranke Geliebte in den Tod begleitet. Auch nicht mit Marlies, der lebensgierigen Geliebten und schon gar nicht mit Bühl, der nicht zu wissen scheint, wie ihm geschieht. Der diese unverhoffte Liebe zu Vila hinnimmt wie einen Schicksalsschlag. 
Und dann wären da noch auf einer anderen Ebene Franz von Assisi, der Heilige, der mit den Tieren spricht und die heilige Klara. Auch sie ein Paar, wie Bühl phantasiert. Ein schwieriges Paar auch, das nur für ein einziges Mal selbstvergessen zusammen kommt – unter einem Eselskarren. Spätestens da wird klar, dass dieser groß angelegte Liebesroman eines der wichtigsten deutschen Autoren eine Art Gleichnis ist. Vila und Renz spiegeln sich ebenso in der Liebe von Franz und Klara wie Renz und Marlies oder Vila und Bühl. 
Und noch eine andere Ebene gibt es in diesem vielschichtigen Roman: Bühl hat als Schüler Missbrauch durch einen Lehrer erlebt, mit dem ihn ein ambivalentes Verhältnis verband. Auch da fließen autobiographische Züge ein, hat doch Kirchhoff selbst von solchen Erlebnissen in seinem Bodensee-Internat erzählt. 
Am Ende – nach den zum Scheitern verurteilten Ausbruchsversuchen – bleiben Renz und Vila einander erhalten. Zu vertraut sind sie einander, zu eingemauert in ihrer Zweisamkeit, zum Paarsein verdammt. 
Bodo Kirchhoff ist ein Könner, er schreibt wunderbar, manchmal nahe am Pathos, aber immer wieder gelingen ihm Aussagen, die hängen bleiben wie diese Renz-Einsicht: „Man wächst nicht mehr über sich hinaus in seinem Alter, man wächst still in sich hinein.“ Oder Vilas Angst: „Das Grauen am Älterwerden lag gar nicht so sehr in der schrumpfenden Zukunft, es lag im Schwinden der Anmut, oder was kann man sonst zum Lieben anbieten?“ Schmerzhafte Aussagen sind das, auch weil sie wahr sind. Weil sie in Worte fassen, was das Leben lebenswert macht: Vom anderen wahr genommen zu werden – als schön, als begehrenswert. Am besten bis ins Alter.
Info: Bodo Kirchhoff, Die Liebe in groben Zügen, Frankfurter Verlagsanstalt, 670 S., 28 Euro

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