Wer bin ich? Marjorie Celonas „Hier könnte ich zur Welt kommen“

Eine junge Mutter setzt ihr neugeborenes Baby vor der Türe des YMCA aus. Ein Mann beobachtet das Ganze und alarmiert die Polizei. Das Findelkind wächst bei den unterschiedlichsten Familien auf, bis es am Ende seiner Odyssee bei der allein erziehenden Miranda landet und ihrer Tochter Lydia-Rose.

Shannon, wie die Kleine inzwischen heißt, könnte glücklich sein, endlich ein Zuhause gefunden zu haben. Doch das Mädchen fühlt sich in der neuen Familie als fünftes Rad am Wagen, sie leidet unter der Eifersucht ihrer neuen Schwester und wünscht sich nichts sehnlicher als ihre leibliche Mutter kennenzulernen. Wie alle anderen auch, will sie wissen, woher sie kommt, wem sie die blonden Locken zu verdanken hat, wem die kleine Statur und wem das blinde Auge.
Marjorie Celona erzählt in ihrem beeindruckenden Debüt zwei Geschichten in einer. Sie lässt Shannon in der Ich-Form über ihr Leben berichten, von Anfang an und parallel dazu das Leben ihrer Mutter Yula erzählen – bis zu ihrer Geburt. Beide Erzählstränge laufen aufeinander zu und vereinigen sich, als es Shannon schließlich gelingt, ihre Eltern aufzustöbern. Dazwischen erfahren die Leser von den traumatischen Erfahrungen Shannons als Missbrauchsopfer, sie begleiten das Mädchen auf ihren Irrwegen durch Vancouver Island und ein Vancouver, das so gar nicht touristisch ist. Und sie begreifen ihren Zwiespalt, den Marjorie Celona beeindruckend in Worte fasst: „Ich wünschte, ich hätte einen Aus-Schalter. Ich möchte nicht jeden Tag ich sein. Wenn ich aufwache und in den Spiegel blicke, ist alles, was ich denke: Du schon wieder.“ Erst, wenn sie weiß, wer sie wirklich ist, wird Shannon mit sich selbst versöhnt sein.
Sie wird damit leben müssen, dass Yula sich schuldig fühlt für den Tod ihres kleinen Sohnes. Dass sie sich ihr Versagen als Mutter nie verzeihen wird: „Sie hat den überwältigenden Wunsch, einen Stein zu nehmen und sich damit auf den Mund zu schlagen, bis ihre Zähen brechen. Sie möchte sich ihr ganzes Gesicht zerschmettern.“ Für ihr neu geborenes Baby sah die verstörte Yula, mit 18 fast noch ein Kind, nur eine Zukunft ohne sich und ihre Schuld. Auch das erfährt Shannon. Damit muss sie leben.
Ein starker Roman über die Suche nach der eigenen Identität ist Marjorie Celona mit diesem Buch gelungen – mit Bildern, die sich festhaken. 
Info: Marjorie Celona, Hier könnte ich zur Welt kommen, Insel, 348 S., 19,95 Euro

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