Südafrika: 20 Jahre Regenbogennation am Beispiel von Johannesburg

Sie sind nicht zu übersehen in Johannesburg, die Plakate mit dem großen Dankeschön an Nelson Mandela, der am 5. Dezember im Alter von 95 Jahren starb. Er war die Ikone des afrikanischen Freiheitskampfes, der charismatische Führer und erste Präsident Südafrikas. Und er hat vorgegeben, was das Land seit 20 Jahren erfolgreich praktiziert: „Dies ist nicht die Zeit der Rache. Dies ist die Zeit, unsere Nation aufzubauen.“ Erstaunlich viele Südafrikaner scheinen Mandelas Versöhnungskurs verinnerlicht zu haben, sein Credo „Vergeben befreit die Seele“. Wie sonst könnten in dem Land, das über Jahrzehnte den Großteil der Bevölkerung  an den Rand gedrängt hatte, Schwarz und Weiß zusammenleben? 

Prima, der 68-jährige Inder, der Touristen auf dem Constitution Hill von Johannesburg führt, wo er neun Jahre als politischer Gefangener fristete, ist heute stolz auf sein Land. „Was wir in Südafrika gelernt haben“, sagt er, „ist, uns mit unserer Geschichte zu versöhnen“. Leicht kann das nicht gewesen sein, hat doch der Inder 1982 am eigenen Leib die ganze Härte des Apartheit-Regimes erfahren. „Wir mussten uns ausziehen und standen nackt in der April-Kälte, beschimpft von den Wärtern, ehe wir verlauste, dreckige Gefängniskleidung bekamen“, erinnert er sich an seinen ersten Tag auf dem Constitution Hill. Sieben Tage und sieben Nächte wurde er gefoltert, weil er politischen Häftlingen zur Flucht verholfen hatte. Die Wärter hätten alles versucht, den Willen der politischen Gefangenen zu brechen. Nicht nur das Essen und die hygienischen Zustände waren miserabel, die Zelle teilte er mit Kriminellen und Ratten. 
Es ist ein seltsames Gefühl, hier zu sein, an diesem Ort des Schreckens und frei herumzulaufen. Die dunklen Zellen zu betrachten, die wenigen Duschen im Hof, die Küche, in der die schwarzen Häftlinge meist mit Wasserreis abgespeist wurden. „Die Weißen aßen wie im Restaurant“, notierte ein schwarzer Wärter, „Sie aßen besser als die Farmer. Für die schwarzen Menschen aber gab es nichts dergleichen. Sie aßen Müll.“   
Auch Nelson Mandela war kurze Zeit auf dem Constitution Hill inhaftiert – allerdings unter (fast) komfortablen Bedingungen, wie man bei einem Besuch in „seiner“ Zelle sehen kann. 
Der damals schon prominente Freiheitskämpfer war 1962 der einzige Schwarze im weißen Trakt, erzählt Prima, der Mandelas „langen Weg zur Freiheit“ verfolgt hat. Sorge, dass das Land nach dem Tod des charismatischen Versöhners im Chaos versinken könne, hat der Inder, dessen Großvater ein Verbündeter des indischen Freiheitshelden Ghandi war, nicht. „Unsere Verfassung ist gut“, ist er überzeugt, räumt allerdings „große Probleme“ ein – Armut, Slums, Arbeitslosigkeit. „Der Rahmen ist da, aber wir müssen noch hart daran arbeiten, ihn mit Leben zu füllen.“ Prima zeigt auf die Flamme der Demokratie, die auf dem Constitution Hill brennt und dann erklärt er die Farben der südafrikanischen Flagge: Blau für das Meer, grün für die Landschaft, gelb für die Bodenschätze, schwarz für die schwarze und weiß für die weiße Bevölkerung – und rot für das Blut, das geflossen ist, als vor 20 Jahren die Demokratie entstand. 
Auch Craig Ziman (48) erinnert sich noch genau an die Zeit, die sein Leben durcheinander wirbelte, ist der weiße Südafrikaner doch in einem überzeugt rassistischen Elternhaus groß geworden. In einem Haus, wo es ganz normal war, dass die schwarze Dienerschaft nicht das Geschirr oder das Besteck der weißen Herrschaft benutzen durfte, dass die Schwarzen die Drecksarbeit erledigten. Und er erinnert sich an das Rugby-Spiel 1995 gegen Neuseeland, bei dem Südafrika Weltmeister wurde – mit der weißen Springboks-Mannschaft. Mandela trug das Spingboks-Trikot, als er den WM-Pokal an Kapitän Francois Pienaar übergab. Es war eine große Geste der Versöhnung. So sah es auch Craigs Vater, der in die Standing Ovations einstimmte und von da an umzudenken begann. „Das Spiel war für ihn ein echtes Schlüsselerlebnis wie im Film Invictus“, erklärt Craig, „Clint Eastwood hat das ganz realistisch dargestellt“. 
Auch Craig selbst – „Ich war wie eine Ratte im Labor, ich konnte mir kein anderes Leben vorstellen“ – wurde ein anderer. Nicht von heute auf morgen, sondern in einem „fließenden Prozess“. Heute hat der weiße Südafrikaner, dessen Ahnen vor 1735 aus Deutschland nach Südafrika eingewandert waren, viele schwarze Freunde und ist ein glühender Gegner der Apartheit: „Rassismus ist für mich wie eine Eisenkette und es ist wichtig, die Glieder zu zerschlagen, damit die Kette nicht weitergegeben werden kann.“
Aber anders als für schwarze Südafrikaner ist für Craig der letzte weiße Präsident de Klerk „der erste neue Südafrikaner“. Immerhin habe er 1992 mit dem Referendum zur Abschaffung der Rassentrennung den Weg zur Demokratie geebnet. „De Klerk wollte wissen, ob die weißen Südafrikaner mit ihm gehen würden.“ Dass das Referendum mit knapper Mehrheit angenommen wurde, findet Craig immer noch erstaunlich. Schließlich schafften die Weißen damit ihre eigenen Privilegien ab – „zum ersten Mal in der Geschichte“. Deshalb hat Craig sich auch vor zwei Jahren bei Frederik Willem de Klerk bedankt, als er den Ex-Präsidenten zufällig bei einem Büffet traf. Dass selbst im konservativen Rand Club in Johannesburg, wo bis heute Jeans verpönt sind, ein Gemälde der jungen Königin Elizabeth II. dem Porträt Nelson Mandelas weichen musste, ist für Craig trotzdem selbstverständlich. Der britische Journalist Craig Smith vom Guardian hatte 2010 dagegen das Gefühl, dass in den mit Tiertrophäen und Kolonialisten-Porträts behängten Wänden, die schon Rudyard Kipling und Winston Churchill sahen, noch immer der koloniale Ungeist umgeht. 
Für Alice Cabaret, die 28-jährige Stadtentwicklerin, die aus Paris nach Johannesburg kam, ist das alles weit weg. Sie lebt und arbeitet in Maboneng, „einer der besten Nachbarschaften der Welt“, wo sie dabei hilft, ehemalige Fabrikgebäude in Wohnungen in Ateliers umzuwandeln. Alles wirkt entspannt, in den Restaurants und Cafés sitzen Weiße und Schwarze an einem Tisch, und Alice hat kein Problem, allein durchs Viertel zu laufen. Sie scheint Gott und die Welt zu kennen, grüßt dort einen Ladenbesitzer, hier eine Künstlerin. „Diese städtische Umgebung ist etwas völlig Neues für Johannesburg“, sagt sie in ihrem französisch-gefärbten Englisch und versichert, dass „wir niemanden verjagen, sondern leerstehende Gebäude mit Leben füllen.“ Erfolgreich wie ein Bummel durch diesen „Ort des Lichts“, so die deutsche Übersetzung von Maboneng, zeigt. Selbst in ausrangierten Containern blüht das Leben. Das Bioscope neben einem gut besuchten Café ist das einzige unabhängige Kino der Stadt. Überall Kunst, nicht nur im Museum des afrikanischen Designs, sondern vor allem auf der Straße, an den Häusern. Eine Clique schwarzer Schüler steht schwatzend vor einem riesigen surrealistischen Graffito, in das eine weiße Hand greift. „Wir haben eine Plattform für soziale Kontakte geschaffen“, erklärt Alice mit unverhohlenem Stolz. Eine Plattform, auf der Weiße, Schwarze und Farbige sich ohne Vorbehalte begegnen können – auch über die Kunst. 
Nelson Mandela, an den in Johannesburg auch eine der schönsten Brücken der Stadt erinnert, hat anlässlich der Rugby-WM den Sport als „Instrument des Friedens“ bezeichnet, als „die Kraft, die Welt zu verändern, zu inspirieren“. Nicht nur in Maboneng gilt dies auch für die Kunst. Auch Newtown ist so eine Keimzelle neuen städtischen Zusammenlebens. Aus einer Industriebrache entstand ein Künstlerviertel, geprägt von Graffitis an den Wänden und Skulpturen entlang der Wege. Am Mary-Fitzgerald-Square, dem größten Platz der Stadt, macht der Prince of Newtown“ Musik, und eine Gruppe schwarzer Schüler tanzt dazu. Lachend posieren sie für ein Foto. 
Tania Olson, weiß und enthusiastisch, klatscht fröhlich in die Hände. So gefällt ihr ihre Stadt. Rau aber herzlich sei Johannesburg und auch nicht krimineller als andere Städte, sagt sie und dass es hier „so viel mehr gibt als man an der Oberfläche sieht.“ Mit die meisten Art-Deco-Gebäude der Welt etwa und irgendwann wohl die weltgrößte Open-Air-Galerie. Schon jetzt kann man in Newtown an Graffiti-Wänden entlang spazieren, die von internationalen Künstlern gestaltet wurden, oder an einer erstaunlichen Galerie von Holzköpfen. Seit 1999 arbeitet die blonde Tania für das Projekt Newtown. Sie liebt das Market Theatre, das erste Theater, in dem es keine Apartheit gab und wo seit 1974 die besten Schauspieler des Landes auftraten. „Johannesburg ist wirklich ein Schmelztiegel“, meint Tania, „mit allem drin was ich mag.“ Der Prinz von Newtown ist nicht ganz so euphorisch: „Wir müssen dafür kämpfen, dass Mandelas Traum von der Gleichheit aller Menschen wahr wird“, fordert der Musiker, „noch ist es nicht so weit.“  

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