Lucindas Reise nach Tenebrien

Es ist Malina, die diese Geschichte erzählt und Malina vergöttert Lucinda. Als die ältere Schwester das Essen verweigert, ist es Malina, die weiß, dass Lucinda sich der Welt verweigert, weil sie den Alltag nicht ertragen kann, weil sie „kein stetes Licht, sondern ein Blitzgewitter“ will, ein Brennen „auf der Haut und ganz tief drinnen, damit wir spüren, dass wir am Leben sind.“ Das Mädchen fordert das Schicksal heraus, leistet sich gefährliche Mutproben und setzt ihre Gesundheit aufs Spiel. Die Eltern sind verzweifelt, sie erreichen die Tochter nicht mehr. Malina sieht das alles und versteht: „Auf einmal weiß ich, dass Frieder und Isa auch nicht mehr über dieses Leben wissen als ich. Es spielt keine Rolle, dass sie unsere Eltern sind. Es spielt keine Rolle, wie lange sie schon auf der Welt sind. Sie sind genauso verloren in diesem Sommer.“
Denn dies ist der Sommer, in dem Lucinda verschwindet, Stück für Stück. Sie hungert, bis sie fast durchsichtig ist. „Eines Tages hat meine Schwester ihren Koffer genommen und ist gegangen“, erzählt Malina, und sie denkt „an den Stern, der auf dem Höhepunkt seines Lichts vom Himmel fällt. Damit die anderen nicht geblendet werden. So ist das eben.“
Ja, so ist das aus der Sicht der kleinen Schwester, wenn Lucinda nach Tenebrien aufbricht. Aber wie ist es wirklich? Genau darin liegt die Problematik dieses faszinierenden Buches. Lara Schützsack, Jahrgang 1981, schreibt ihr Debüt ganz aus der Sicht Malinas, also ohne jede Distanz, kritiklos. Denn für die 13-Jährige ist Lucinda der Fixstern, der den Weg weist. Dabei übersieht sie, dass ihre Schwester in ihrer pubertären Hybris nicht nur ihr eigenes sondern auch das Leben anderer riskiert. In ihrem schwesterlichen Verständnis idealisiert sie die Ältere, macht sie zu einer Art Märtyrerin, die an der Normalität des Lebens zerbricht. Für jugendliche Leser könnte der Sog, den dieses außergewöhnlich poetische Buch entwickelt, durchaus gefährlich sein, Lucindas Verhalten könnte zur Nachahmung einladen. So besehen ist diese literarische Entdeckung eine Lektüre mit Fallstricken und nur erfahrenen Lesern zu empfehlen.
Info: Lara Schützsack, Und auch so bitterkalt. Fischer KJB, 176 S., 14,99 Euro

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