Im Windschatten

In den siebziger Jahren galt das beschauliche Kusadasi als Wiege des Tourismus. Liegt es doch nicht nur malerisch am Meer, sondern auch inmitten einer geschichtsträchtigen Landschaft. Praktisch vor der Haustür: Die fantastischen Ausgrabungen des griechischen Ephesus, das mit dem Artemis-Tempel einst eines der sieben Weltwunder beherbergte. Das Haus der Mutter Maria, die der Legende nach auf dem Nachtigallenberg ihre letzten Jahre verbrachte und dort auch starb. Die Ruinen der Johanneskirche in Selcuk, der Nachfolgesieglung von Ephesus. Das griechische Dorf Sirince. Und in Ausflugsnähe großartige antike Stätten wie Aphrodisias oder auch das Touristenziel Pamukkale mit den Überresten des griechischen Hierapolis.
Beschaulich ist Kusadasi schon längst nicht mehr, die Einwohnerzahl ist explodiert, Zweitwohnsitze haben Konjunktur, monotone Neubausiedlungen ziehen sich die Berghänge empor. Im Hafen ankern Kreuzfahrtriesen und am Meer entlang ziehen sich moderne Shopping-Arkaden. So wie früher ist es vielleicht noch im kleinen Fischmarkt oder auf dem Weg zur Taubeninsel, den sich Angler mit hungrigen Katzen teilen. Mit luxuriösen Hotels, einem gigantischen Kongresszentrum sowie dem weithin sichtbaren Aquapark will Kusadasi an die früheren Erfolge anknüpfen und wieder zu einem der ersten Touristenziele in der Türkei werden.
Denn die Zeiten haben sich geändert und die Vorstellungen der Touristen mit ihnen. Für Errol, den 54-jährigen promovierten Germanisten und Reiseleiter, ist das immer wieder eine Herausforderung. Seit 28 Jahren arbeitet er als Reiseleiter, schon während seines Studiums hat er Gruppen geführt. Die waren noch interessiert an allem, was er ihnen zeigte, kannten die antiken Stätten und die Geschichte dahinter. „Heute wissen manche nicht einmal, was Ephesus ist“, wundert sich der kleine Mann mit dem freundlichen, runden Gesicht. Alles sei unpersönlich geworden, kritisiert Errol, und immer öfter habe er das Gefühl, eher Hiwi als Reiseleiter zu sein. „Das All-inclusive-Konzept hat alles kaputt gemacht“, klagt der Heinrich-Böll-Liebhaber. Immer mehr Touristen kämen der günstigen Preise wegen und nicht, um Land und Leute oder gar die Geschichte kennenzulernen. Dabei hat gerade das Hinterland der türkischen Ägäisküste mehr Geschichte zu bieten, als man in einem Urlaub bewältigen kann.
Zum Beispiel Aphrodisias: Die Ausgrabungsstätte der antiken Stadt, in der zu Hoch-Zeiten wohl 150 000 Menschen gelebt haben, liegt heute abseits der touristischen Rennstrecken. Am frühen Vormittag sind wir in der weitläufigen Anlage allein mit den Katzen, die sich zwischen antiken Säulen und Skulpturen eingerichtet haben. Das sanfte Sonnenlicht wirkt wie ein Weichzeichner auf den schön gemeißelten Köpfen und den filigranen Kapitellen, es zaubert goldene Reflexe ins Grasgrün, hebt da eine Säule hervor, dort einen alten Baum. Wir wandern staunend über das Gelände, bewundern den Marktplatz mit dem Wasserbecken, das Theater, das großartige Tor zum Aphrodite-Tempel, das gigantische Stadion. In den 1960er Jahren, berichtet Errol, stand hier noch ein Dorf. 30 Häuser wurden im Verlauf der Ausgrabungen abgetragen.
Die Bauern hatten auf ihren Feldern Statuetten, Teile von Säulen und andere antike Stücke gefunden und weiter verscherbelt – bis nach Istanbul. „Die Türkei war eine Fundgrube für Antikensammler“, weiß unser Reiseleiter und auch, dass es bis heute so ist. Schließlich gäbe es immer noch viel Unentdecktes unter der Erde. Um Raubzüge zu verhindern streuten Archäologen Nägel auf die antiken Stätten. „Dann funktionieren die Metallsonden nicht mehr.“ 3500 antike Stätten seien in der Türkei lokalisiert, mindestens noch einmal so viel vermuteten Archäologen im türkischen Boden.
Funde beweisen, dass die Gegend um Aphrodisias schon 3000 Jahre vor Christus besiedelt war, 2700 Jahre später wurde der Ort zum Zentrum des Aphrodite-Kults, wobei die Göttin der Liebe als Fruchtbarkeitsgöttin verehrt wurde. Berühmt wurde Aphrodisias auch durch seine Bildhauerschule, der die wunderbar harmonischen Skulpturen und Köpfe zu verdanken sind. In der christlichen Zeit wurde der Aphrodite-Tempel zur Bischofskirche und Aphrodisias zu Stavropolis (Stadt des Kreuzes). Doch die Blütezeit war vorbei. Kriege und Erdbeben taten ein Übriges. Erst zu Anfang des letzten Jahrhunderts begannen die Ausgrabungen, in den 1960iger Jahren wurden sie unter dem Archäologen Kenan Erim forciert. Ein Grabmal nahe des Eingangstores erinnert an den gebürtigen Türken, der in Genf aufwuchs, in den USA studierte und als Professor an der New York University zurück in die Türkei kam. Bis heute überwacht die NYU die Ausgrabungen in Aphrodisias. Aber „es fehlt an Geld“, stellt Errol trocken fest – auch an Eintrittsgeldern.
Die Massentouristen machen einen Bogen um die Gegend und fahren von Ephesus gleich nach Pamukkale, wo sich an den berühmten Sinterterrassen die ganze Welt zu treffen scheint. Blendend weiß wie ein Schneegebirge sieht der Hügel mit den Terrassen von Ferne aus. In der Nähe erkennt man die Schäden, die zu viele Besucher verursacht haben, das Weiß hat schwarze Ränder, teilweise haben Trittschäden die Kalkablagerungen fast ganz verschwinden lassen. Und nur ein Teil der Becken sind mit dem blauen Thermalwasser, in dem schon vor 2000 Jahren Kranke Heilung suchten, gefüllt. Da planschen dann Japaner in fröhlicher Eintracht mit Deutschen und Türken, baden Mütter ihre Kleinkinder, gönnen sich eilige Touristen wenigstens ein Fußbad. Früher, erzählt Errol, konnte man in all den kleinen und großen Naturbassins baden. Vorbei. Schon seit 1996 gelten strenge Vorschriften. Denn das wilde Baden und die Hotels, die nicht nur die Quellen anzapften, sondern auch ihr Schmutzwasser auf die Terrassen leiteten, hatten dem Welterbe zugesetzt. Inzwischen wurden die Hotels abgerissen und das Naturwunder darf nur auf vorgeschriebenen Pfaden begangen werden – barfuß. Das versteht nicht jeder. Immer wieder müssen die Wächter vorwitzige Touristen zurückpfeifen, die sich nicht um die Vorschriften scheren. Doch Pamukkale soll schließlich zu alter Schönheit zurückfinden. In Hierapolis, der antiken Stadt über den Sinterterrassen, ist der Andrang überschaubar. Dabei sind das Theater und die Nekropole durchaus sehenswert. Eines der Gräber steht auf einem Sinterfeld – im Licht der untergehenden Sonne sieht es aus wie in Sibirien. Silbern funkeln die letzten Sonnenstrahlen auf dem Kalkweiß. Man würde gern noch bleiben, die gefährdete Schönheit im Mondschein betrachten. Doch bis nach Kusadasi ist es weit. Drei Stunden Busfahrt. Viel Zeit, um all die Eindrücke zu verarbeiten.

Info:
Anreisen. Sun Express fliegt von acht deutschen Städten direkt nach Izmir. Von da geht es mit dem Bus nach Kusadasi.
Wohnen. Zentral im Ort gelegen, direkt gegenüber der Marina ist das Sentido Marina Suites, buchbar bei Öger Tours (sieben Nächte in der Junior Suite, mit Halbpension und Flug pro Person ab 299 Euro). Direkt am Strand liegt das Pine Bay Holiday Resort, buchbar bei Neckermann (sieben Nächte all inclusive mit Flug ab 412 Euro).
Bezahlen. Ein Euro entspricht aktuell 2,81 Türkische Lira (Stand November 2014).
Anschauen. Von Kusadasi aus werden Ausflüge nach Ephesus, Aphrodisias und Pamukkale angeboten. Kosten zwischen 50 und 150 Euro pro Person. Eintritt in Aphrodisias rund 15 Türkische Lira, in Pamukkale und Hierapolis 25 Türkische Lira, das Schwimmbad kostet extra.
Informieren. Im Reisebüro oder im Internet unter www.tuerkei-tourismus-kultur.de Türkisches Fremdenverkehrsamt, Baseler Straße 37, 60329 Frankfurt, Tel. 069/23 30 81-82, http://www.reiseinfo-tuerkei.de/

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