Eine Liebe außerhalb der Zeit: Michail Schischkins „Briefsteller“

Briefsteller, das waren im alten Russland Handbücher zum Verfassen von Briefen, zuerst nur für offizielle Zwecke später auch für private. Was also will uns Michail Schischkin mit diesem Titel sagen: Dass Sascha und Wolodja nur Formeln sind für einen Briefwechsel zwischen Liebenden, die ein Krieg auseinander gerissen hat? Dass nur das Aufgeschriebene bleibt, auch dann noch, wenn die Briefschreiber längst tot sind?

Es ist ein komplexes Buch, das russische Autor („Venushaar“) mit diesem fiktiven Briefwechsel vorlegt. Zwar lässt er die Liebenden, die einen Sommer voller Glück genossen haben, abwechselnd Brief mit ihren Erlebnissen, Erinnerungen, Gedanken füllen. Und doch bezieht sich keiner der Briefe auf den anderen. Jeder schreibt zwar in Gedanken an den anderen aber doch für sich allein. Und er schreibt, um sich seiner Existenz zu versichern, indem er sich im Bewusstsein des anderen verankert. 
Während Wolodja in China vor dem Abgrund eines unbarmherzigen Krieges seine Sinne geschärft sieht, taumelt Sascha zuhause in Russland in ein neues Abenteuer, das ihre Sehnsucht nach Leben stillen soll. Und so schreiben die beiden ihr Leben fort – in Monologen, nicht in Dialogen. Sie kehren zurück ins Land ihrer Kindheit, beschäftigen sich mit dem Sinn des Lebens und dem allgegenwärtigen Tod – und richten sich immer wieder an diesem gemeinsam erlebten Sommer auf. 
Nicht nur Wolodja wird vom Tod bedrängt, auch für Sascha, die nach ihrem verstorbenen Bruder genannt wurde, ist er allgegenwärtig. Die Ärztin, die auch mit Abtreibungen ihr Geld verdient, erleidet eine Fehlgeburt, ihre Stieftochter stirbt im Koma, sie pflegt die krebskranke Mutter und später den an Alzheimer erkrankten Vater bis zum bitteren Ende. 
Michail Schischkin schickt den Leser auf ein Karussell des Lebens, das seine Runden dreht und doch immer wieder zum Ausgangspunkt zurück kehrt. Nur in dieser rasanten Fahrt können sich die Briefschreiber begegnen, die nicht nur Tausende Kilometer voneinander trennen, sondern auch Generationen. Die Zeit hat abgedankt, was überlebt sind die Worte. Und sie stehen beispielhaft für das, was Menschsein bedeutet.  
Info: Michail Schischkin: Briefsteller, Aus dem Russischen von Andreas Tretner, DVA, 384 S., 22,99 Euro 

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